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2018-11-21 16:34:29, Jamal Tuschick

Wir hatten einen schönen Abend, Arta Ramadani, Karosh Taha und ich. Die Mainlaborant*innen unterhielten sich im Hanauer Kulturforum.

Sich wie ein deutsches Mädchen zu fühlen

Von links: Karosh Taha, Jamal Tuschick, Arta Ramadani - fotografiert von Eugen El

Sich wie ein deutsches Mädchen zu fühlen. Nichts könnte exotischer sein für Sanaa. Sie lebt in einem kurdischen Hochhauskosmos im Ruhrgebiet. Eine Tante beherrscht ...

Hier noch mal der Einführungstext:

1989 lebten ungefähr so viele Menschen in der DDR wie heute in Deutschland einen Migrationshintergrund haben – 17 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Das entspricht einem Fünftel der Bevölkerung. Gäbe es einen gemeinsamen politischen Nenner könnte eine Partei der Migranten die Bundeskanzlerin stellen. Migration ist das Hauptwort unserer Zeit - und Literatur, so sagt es Chris Albani, das Nitroglycerin der Kunst – ein fluider Sprengstoff.

Eine Frage vorab: Könnt ihr mit dem Begriff Migrationshintergrund im Zusammenhang mit eurer literarischen Arbeit überhaupt etwas anfangen? Ist das eine ausreichend neutrale Zuschreibung für euch? Oder ist das eine übergriffige Etikettierung?

Zum Ablauf des Abends. Karosh Taha, Arta Ramadani und ich werden jeweils zwanzig Minuten lesen, Karosh Taha aus ihrem Debütroman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“, Arta Ramadani aus „Die Reise zum ersten Kuss – eine Kosovarin in Kreuzberg“ und ich aus einem Manuskript, das zurzeit „Eine Geschichte der Gastarbeit in Osthessen“ heißt. Danach wollen wir uns über die Romane der Autorinnen und den gesellschaftlichen Mehrwert migrantischen Erzählens unterhalten. Bevor ich die Autorinnen vorstelle, gestatte ich mir zwei Bemerkungen, die unsere Themen von verschiedenen Punkten ansteuern.

„Homogen ist eine Gesellschaft, in der Unterschiede zweitrangig sind. Meine Weltanschauung verträgt Differenz und Dissonanz. Die diffusen Bevölkerungsängste dürfen den politischen Diskurs nicht bestimmen“, sagte Sandra Gugić auf der großen Textland Tagung vor ein paar Wochen in Frankfurt. In der Bestandsaufnahme von Jana Hensel und Wolfgang Engler „Wer wir sind – Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ wird ein „Wir“ formuliert, das zu der Frage Anlass gab: Gibt es dreißig Jahre nach dem Mauerfall überhaupt ein ostdeutsches „Wir“ – einen politischen Plural. Jana Hensel antwortete: Wir, also die Autor*innen, sind uns bewusst, dass das „Wir“ eine rhetorische Figur ist.

Interessant finde ich die Frage, ob es über solch eine Konstruktion hinaus so etwas wie ein migrantisches „Wir“ gibt und sei es als poetischer Plural, der einer Einlassung von Sven Regener entgegen treten könnte: „Unsinnig ist es“, so sagt es Regner, „Migranten, Einwanderern oder Geflüchteten eine kollektive Identität zu verleihen.“ Die er dann negativ rahmt. „Die Migranten sind alle islamistisch, haben ein verkorkstes Frauenbild und sind sexuell übergriffig.“

Sie sehen, worauf es hinausläuft: auf belastende Zuschreibungen, die vor jedem anderen Text da zu sein scheinen, als wären sie aus einem Automaten gezogen worden.

Denen entgegen tritt Arta Ramadani. Die ZDF-Redakteurin und Romanautorin betrachtet sich als ein Beispiel für gelungene Integration. Sie sagt: „Es ist schade, dass die Medien so sehr auf migrantische Problemfälle anspringen. Schaut mich an - Ist es nicht schön zu sehen, dass es auch Migrantinnen wie mich gibt? Denen das Leben gelingt. Ich möchte Mädchen aus traditionellen Familien dazu inspirieren, an sich zu glauben und ihren Weg konsequent selbstbestimmt zu gehen.“

Ihr Bekenntnis:

Ich bin von Herzen Europäerin. Das beinhaltet alles, was mich ausmacht. Meine albanische Herkunft, meine deutsche Identität, meine humanistische Erziehung. Europa steht für mich für Humanismus und Menschenrechte.

Arta Ramadani wurde 1981 im Kosovo geboren und kam mit ihren ultra-progressiven Eltern in den Neunzigerjahren nach Deutschland. Sie musste sich nicht emanzipieren, sondern bewähren, indem sie den hohen Emanzipationsstandard der Eltern nicht unterschritt.

Zitat: „Ich hätte jederzeit ledig Mutter werden dürfen. Ein Schulabbruch wäre aber eine Katastrophe gewesen.“

Arta Ramadani studierte Ethnologie, Medien- und Kommunikationswissenschaften in Mannheim, Heidelberg und Boston. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über die Veränderung der traditionellen Familienstrukturen durch das Leben in der Migration- am Beispiel der in Deutschland lebenden Kosovoalbaner. 2012 wurde sie für den TV-Beitrag: „Schlau und trotzdem „nur“ Hauptschule“ mit dem Kausa Medienpreis ausgezeichnet. 2014 war sie für den „Alternativen Medienpreis“ nominiert mit ihrem TV- Beitrag: „Aberglaube- Volle Vernunft Voraus“. Sie bezeichnet sich selbst als „Vollblutjournalistin, die im Dienst der Zuschauer unterwegs ist“. Im Frühjahrssemester 2017 war sie Lehrbeauftragte der Universität Mannheim.

Ihr literarisches Debüt, „Die Reise zum ersten Kuss: eine Kosovarin in Kreuzberg“, veröffentlichte Arta Ramadani 2018 im Drava Verlag. Die Geschichte kommt flott daher, die Leser*innen werden familiär angesprochen, aber dann geht es doch gleich um Furcht einflößende serbische Polizisten und Dramen wie einen Vater im Gefängnis. Der Zwangsaufenthalt wird vor der heranwachsenden Heldin verschleiert. Für Era ist Papa auf Montage. Sie betet Madonna an und scheint leichten Herzens zu leben. Deutsch klingt für sie übrigens wie Robotergerassel. Es finden sich solche Sätze im Buch: „Erst mochten uns die Türken nicht und dann kamen die Serben.“

Ich habe mir das noch mal angeguckt – Albanien war römisches Protektorat. Es war Byzantinisch und Bulgarisch. Dann lange Osmanisch. Und eine Weile auch Italienisch, Deutsch …

Literatur schafft einen Raum, in dem die Spezialfälle der Migration - und die Migration besteht aus lauter Spezialfällen, das ist ihre Normalität, siehe die Diversität auf dem Podium - zur Sprache kommen. Ansonsten werden die Feineinstellungen der Skalen von Minderheiten gesellschaftlich nicht kanonisiert.

Karosh Taha sagt: „Anstatt zu fragen, was Integration ist, wird vorausgesetzt, dass dieses undefinierte, unklare Konzept tatsächlich funktioniert, und ich werde gefragt, ob ich integriert bin. Anstatt zu fragen, was Deutsch ist, was Nationalität mit Identität zu tun hat, wird gefragt, ob ich mich deutsch fühle – als sei Deutschsein ein Gefühlszustand, als sei Deutschland ein Lebewesen, zu dem ich eine emotionale Beziehung haben müsse.“

Karosh Taha wurde 1987 im Nordirak aka Autonome Region Kurdistan geboren. Ich musste bis zu dieser Stelle warten mit meiner vorgezogenen Zwischenfrage: Deine Heldin unterscheidet zwischen höflichen und ehrlichen Versprechen. Die höflichen Versprechen sind kurdische. Mir ist das beim ersten Mal Lesen gar nicht so aufgefallen. Ich habe dich, um ein Modewort der Stunde zu verwenden, zuerst arabisch gelesen. Welche Rolle spielt es, dass die Binnenkonflikte in den Ursprungsgesellschaften zumindest der Eltern in Deutschland keine Rolle spielen?

Seit 1997 lebt Karosh Taha mit ihrer Familie im Ruhrgebiet. Sie hat an der Universität Duisburg-Essen sowie in den Vereinigten Staaten Anglistik und Geschichte studiert. Für ihre Leistungen und ihr soziales Engagement erhielt sie mehrere Stipendien, darunter das Studienstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung. 2018 debütierte sie mit dem bei Dumont erschienenen Roman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“. Dem Titel verdanken seine Leser*innen neue Informationen aus der fortgeschrittenen Migration. So ist das, glaube ich, zuvor noch nie erzählt worden. Die Migration bestellt Kinder zur Aufsicht über ihre in den ersten Durchgängen der Einwanderung gescheiterten Eltern. Die neuen Verhältnisse geben ihnen keine Kraft. Vom Nachwuchs werden sie als Krisenherde wahrgenommen. Die Jungen versichern sich gegen die Anfälligkeiten der Alten mit den Gepflogenheiten diverser Jugendstile.

Die Heldin heißt wie die Hauptstadt des Jemen Sanaa und kommt aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris in eine westdeutsche Hochhaussiedlung. Die Fenster der Häuser in Sanaas neuer Heimat erscheinen dem erzählenden Ich wie „feindliche Augen“. Sanaa nimmt Auszeiten „von den Gesichtern und Geschichten“ ihrer Gegend. Sie studiert, lebt bei den Eltern, hat einen Freund und einen Liebhaber. Die Mutter ist depressiv. Beherrschend im Familienverband wirkt eine Tante, die Sanaa gemeinsam mit einer Freundin traditionell einnorden will. Der weibliche Dreisatz lautet nach alter Mütter Sitte: Wichtig ist die erste Menstruation. - Ist das erste Mal. - Ist die Geburt des ersten Kindes.

Ich möchte noch einmal auf Jana Hensel zurückkommen. Sie sagt, sie sei als Kind und Jugendliche immer selbstbewusst gewesen und habe erst nach ihrem literarischen Debüt, „Zonenkinder“, die Fragilität ihrer Sprecherposition bemerkt. „Ich begriff, dass ich aus einer Minderheitenposition spreche, als Frau, als Ostdeutsche. Diese Erfahrung des schockhaften An-den-Rand-Gedrängt-Werdens hat mich über mein Leben anders nachdenken lassen. Mir ist es wichtig, Minderheiten zum Sprechen zu bringen und Minderheitenrechte zu schützen. Das ist eine Folge meiner ostdeutschen Biografie.“

Eine Frage an euch beide: Gibt es für Euch dieses Sendungsbewusstsein auch. Sprecht ihr für andere? Seid ihr Gemeindesprecherinnen?