„Die junge, elternlose Nina Plisson weiß nicht, was aus ihrer Mutter geworden ist, und auch nicht, wer ihr Vater war.“ Aus der Ankündigung
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„Es gibt immer Menschen, die ihre Schulter unter die zusammenbrechende Welt stemmen.“ Imre Kertész
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„Dämonen, die gern in labile Menschen fahren, treiben sich bevorzugt in der Nähe der Theater und anderer Schauplätze der Enthemmung herum. Tertullian
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Beton und Zement bildeten das Existenzfundament jener „Grauköpfe“, die täglich in einer Cafeteria zusammenkommen und sich da - mit freiem Blick auf einen Parkplatz und auf ihre Autos, deren Navigationssysteme sie nicht verstehen - gegenseitig auf dem Laufenden halten. Nicht nur in ihren Erzählungen ertrank die Welt einst in einer Sintflut. Auch in der Handlungsgegenwart säuft ihre Umgebung nach Starkregen kurz ab. Sie kennen die Stammbäume der Uransässigen im Ortsteil Urft der Eifel-Gemeinde Kall. („Kall ist eine Gemeinde im Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen in der Nordeifel.“ Wikipedia) Die Verschworenen wissen, dass sie sich auf dem Boden eines verdunsteten Meeres begegnen.
Eingeweihte unterstellen den Greisen druidische Fähigkeiten, bis hin zur Bilokation.
Norbert Scheuer, „Mutabor“, Roman, mit Illustrationen von Erasmus Scheuer, C.H. Beck Verlag, 192 Seiten, 22.-
Der Titel zitiert ein magisches Wort aus Wilhelm Hauffs Märchen „Kalif Storch“. Es bietet mehr als Silbenzauber. Mutabor spricht jene Verwandlungen an, die als ständige Phantasieleistung der Erzählerin im Spiel sind.
Nina Plisson absolviert ihren skurrilen Kleinstadtparcours gemeinsam mit einer Schildkröte. Die Vollwaise hilft in einer Gaststätte aus, die von einem vor Ort gestrandeten Griechen geführt wird. Evros sichert seine weinseligen und schnapslaunigen Einfälle zur olympischen Mythologie auf Bierdeckeln. Da er außer seinen Daumen keine Finger mehr hat … druckt er Buchstaben für Buchstaben mit Hilfe eines kleinen Wortbandstempels auf die (Deckel)“. Den Gedankenschatz verwahrt er in einer Thekenschublade.
Die Götter sind überall in Kall. Nina sieht Helena über einen Parkplatz stiefeln.
„Jeder Mann muss sich in sie verlieben“, denke ich.
Ninas inzwischen verrückter, aber immer noch politisch korrekter Opa behauptet, seine Enkelin sei in Byzanz im „Palast der Störche“ geboren, und ihre Mutter in einem blauen Opel Kapitän gezeugt worden.
Ninas Erinnerungen drehen sich um die Mutter, die eines Tages verschwand. Die Verlassene hält sich manchmal für eine „Libellenlarve“. In ihren Träumen schwankt die Heldin, „mal ist sie ein Junge und dann wieder ein Mädchen“.
Schwelende Schiefergebirgsgemütlichkeit
Der Autor erzählt so schnurrig, dass ich mich davor hüten muss, den Ton aufzunehmen. Scheuers Eifel-Surrealismus spielt mit den Kombinationsmöglichkeiten von nachweislichen Alltagsbeobachtungen und ihrer phantasmagorischen Überformung. Nina erscheint gleichermaßen realitätstüchtig robust und somnambul. Die abgängige Mutter, ein unbekannter Vater; für Nina ist Kall ein Labyrinth. Vielleicht wöge ihre Krux weniger, würden für die Versprengte ein paar offene Geheimnisse gelüftet.
Es gibt eine stillgelegte Eisenbahnstrecke nach Belgien. Einmal ist „der Himmel samtschwarz vom belgischen Meeresregen“. Die metropolenfern-grenznahe Schiefergebirgsgemütlichkeit kann nicht über eine Krise hinwegtäuschen. Nina fehlen Informationen im Spektrum des biografischen Basiswissens. Ihre Angehörigen geben ihr zu viele Rätsel auf.
Die Geschichte lässt sich datieren. Nina liest in der Zeitung von einem „Anschlag auf einen mit Bundeswehrsoldaten besetzten Bus“ auf dem Weg zum Kabuler Flughafen. Das geschah am 7. Juni 2003. Bei dem Selbstmord-Attentat mit einem Taxi starben erstmals deutsche Soldaten in Afghanistan bei einem Angriff. Sie waren auf der Heimreise nach Deutschland. Unter den Toten war Carsten Kühlmorgen, 1990 letzter DDR-Meister über zweihundert Meter Delfin.
In zeitlicher Nähe zu diesem Ereignis fährt Nina gemeinsam mit ihrer Nenntante Sophia in die Westeifel. Der Autor spielt auf ein historisches Ereignis in der Kreisstadt Prüm an. Nahe dem „Mittelzentrum des Eifelkreises Bitburg-Prüm“ explodierte am 15. Juli 1949 ein von den französischen Besatzern angelegtes Lager mit fünfhundert Tonnen Munition. „Der bis heute sichtbare Explosionskrater (im Kalvarienberg) ist einer der größten, die von Menschenhand verursacht wurden.“ Quelle
Aus der Ankündigung
Die junge, elternlose Nina Plisson weiß nicht, was aus ihrer Mutter geworden ist, auch nicht, wer ihr Vater war. Wissen andere in ihrer kleinen Heimatstadt Kall mehr? Was wird ihr vorenthalten? Nachdem das vereinsamte und widerspenstige Mädchen lange Zeit große Schwierigkeiten hatte, lesen und schreiben zu erlernen, wird sie sich, angeleitet von der pensionierten Lehrerin Sophia Molitor, grundlegend verändern. Sie beginnt Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit aufzuschreiben, vom Liebhaber ihrer verschollenen Mutter, in der Gestalt eines schwarzen Storches, von der Reise mit Großvaters Opel Kapitän ins sagenhafte Byzanz, zum Palast der Störche, später dann von ihrer großen, zunächst vergeblichen Liebe zu Paul Arimond. Für Nina verwandelt sich das Urftland mehr und mehr in einen Ort voller Märchen und Mythen, wie sie auf den Bierdeckeln von Evros, dem griechischen Gastwirt, stehen. Immer näher kommt sie dem Geheimnis, das ihr all die Jahre beharrlich verschwiegen wurde. Einfühlsam und spannend erzählt Norbert Scheuer in seinem neuen Roman mit dem ihm eigenen poetischen Ton von der Suche einer einsamen jungen Frau nach ihrer Geschichte, nach Zugehörigkeit und Glück.
Zum Autor
Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, «Am Grund des Universums » (2017) und «Winterbienen» (2019), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, zum Bestseller sowie außerdem in viele Sprachen übersetzt wurde. Er erhielt dafür den Wilhelm-Raabe-Preis 2019 und den Evangelischen Buchpreis 2020.