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2022-07-22 08:52:29, Jamal

Noch ist Kunst Apologetik, Verehrung der Klassiker, Adoranten-Attitüde und Handwerk. Zwar schon ward das artistische Selbstbewusstsein wachgeküsst von den Musen vermutlich, doch geht man noch in den Geschirren der nicht allein göttlichen Fremdbestimmung.

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Matte Folie des Unsichtbaren

In „Die Wunder des Lebens“ führt ein genretypisch wohlbestallter Kaufmann einen Künstler zu einer herausragenden Altarraum-Madonnendarstellung. Dies geschieht in der Keimzeit des Protestantismus in Antwerpen - die Stadt im „schweren Nebelmantel“. Noch lässt sich die Reformation als Ketzerei ächten, zumal die Niederlande spanisch und somit erzkatholisch sind. Siehe Spanische Niederlande.

Der Maler zeigt sich beeindruckt vom Werk eines ihm unbekannten Kollegen. So arbeitet kein Holländer. Das sachverständige Urteil lautet:

„Das hat keiner von den Unsrigen gemalt.“

Stefan Zweig, „Jüdische Erzählungen und Legenden“, herausgegeben von Stefan Litt, Jüdischer Verlag/Suhrkamp, 26,-

Der Kaufmann bestätigt die Expertise. Er erzählt die Geschichte eines in seinen Augen fragwürdigen Bildes. Dessen italienischer Urheber hielt sich einst - gegen die Gewohnheit seiner Landsleute - eine Weile in Antwerpen auf.

Italienische Maler seien stolzer als Fürsten. Sie genössen, das weiß der Kaufmann, in ihrer Heimat exorbitantes Ansehen. Deshalb zöge sie nichts ins Ausland. Den in Rede stehenden Maler habe Liebeskummer in die Wüste der Diaspora getrieben. Der Unglückliche malte die Mutter Gottes nach dem Bild einer ihn Verschmähenden. Dem wegen eines Gelübdes als Mäzen auftretenden Kaufmann erschien das nicht statthaft. Er wollte für ein zweites (dem Schwur geschuldetes) Madonnengemälde ein würdigeres Modell. Da riss der Italiener aus, verwüstet von seinem Gram. Der Kollege wirft sich für den Versprengten in die Bresche. Jener habe nichts Verkehrtes getan:

„Sind wir nicht nach Gottes Bilde geschaffen und muss nicht, um das Vollkommenste darzubieten, das Vollendetste unter den Menschen eine, wenngleich nur matte Folie des Unsichtbaren sein!“

Der Kaufmann winkt ab. Er braucht einen Maler, um sein Gelübde zu erfüllen, und zeigt sich entschlossen, seinen Zuhörer nicht aus der Pflicht zu nehmen. Der einheimische Fachmann soll es richten.

Gewiss fragen Sie sich, welche Last dem Kaufmann auf der Seele liegt. Nun, als junger Spediteur in der väterlichen Niederlassung zu Venedig war er ein Verbrecher im Namen des Leichtsinns. Er trieb es toll und dreist, aller Ermahnungen zum Trotz. Eines Tages aber stellte sich das schlechte Gewissen ein, um nicht mehr zu weichen. Als Büßer kehrte er ins Elternhaus zurück. Da tat er den Schwur, zwei Muttergottesbilder der Kirche zu stiften.

Unser Maler soll die zweite Ansicht eines holden Antlitzes in die Welt bringen. Er macht sich daran, ein gutmütiger Patron, ohne Geniegehabe; vor allem jedoch geblendet von der Großartigkeit des Vorbildes. Er gesteht:

„Ich tue, was ich kann, doch frei herausgesagt, fast nie in meiner langen Schaffenszeit ist mir ein Werk so schwer erschienen, denn wenn es nicht als eines Stümpers leichtfertiges Gefüge neben dieses jungen Meisters Bild erscheinen soll - von dessen Wirken ich mehr zu wissen begehrte - muss Gottes Hand mit meinem Werke sein.“

Noch ist Kunst Apologetik, Verehrung der Klassiker, Adoranten-Attitüde und Handwerk. Zwar schon ward das artistische Selbstbewusstsein wachgeküsst von den Musen vermutlich, doch geht man noch in den Geschirren der nicht allein göttlichen Fremdbestimmung.

„Und er stellte sich die bange Frage, ob er sich selbst noch Künstler nennen dürfe, da ihm solches geschah, und ob er sein Leben lang nicht nur ein mühsam bildender Handwerker gewesen sei, der nur Farben nebeneinander gefügt, wie ein Kärrner die Steine zu einem Bau.“

Man muss viel wissen und viel können, bleibt aber auf der ganzen Strecke im Einklang mit der Mehrheitsgesellschaft. Man kippt nicht aus dem gesellschaftlichen Rahmen, da man auf dem klerikalen Geschäftsparcours seinen festen Stand hat.

Entgegenblauender Blick

Zweig schildert den Maler auf Vorhöfen einer Schaffenskrise, deren Vorzeichnungen gewittrig aufgeladen sind. Der Autor erkennt einen „derbdeutsch-kantigen Mann, dessen Blick einem „entgegenblaut“. Stark am Leib, zerrissen die Seele. Der Maler wähnt sich am Aufgang eines titanischen Werkes. Sein Gegenspieler hat die Messlatte verdammt hochgelegt. Eines Tages trifft ihn ein Schlag der Begeisterung. Vor einer elenden Schenke entdeckt er das Modell nach seinem Herzen. Die Schönheit ist - auf den ersten Blick - ein Ausbund widersprüchlicher Empfindungen. Sie entpuppt sich als Mündel des Wirts, der als Soldat einst, gegen Belohnung, einem Greis und seiner Enkelin zur Flucht vor einem antisemitischen Mob verhalf.

„Da, in einer Nebengasse, durch die ich heim will, springt ein alter Jude mit langem, zitterndem Bart und verstörtem Gesicht, im Arm ein kleines, vom Schlaf aufgeschrecktes Kind, auf mich zu und stottert eine Flut kauderwelscher Worte.“

Bald steht der Haudegen mit dem Kinde und nicht wenig Geld allein da. Er erwartet sich von dem Mädchen die Hilfe einer Tochter. Doch kommt es anders. Esther bleibt auch im Trubel scheu für sich. Der Wirt schimpft sie „zimperlich“. Er findet sie „versponnen und trotzig“. Doch traut er sich nicht, über Esther zu verfügen. Folglich bleibt ihr die Wahl. Wird sich die Scheue malen lassen? Dazu morgen mehr.   

Aus der Ankündigung

Stefan Zweig ist einer der erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache. Berühmt wurde er durch seine romanhaften Biographien, aber sein Werk zeichnet sich besonders durch eine Vielzahl an Novellen aus, die bekannteste ist wohl die Schachnovelle, sein letztes Werk, die posthum 1942 in Brasilien erschien.

Auch wenn Zweigs jüdische Herkunft in seinen Werken keine prominente Rolle spielt und er den jüdischen Kontext in seinen Werken nie besonders herausgestellt hat, darf dessen Bedeutung für Zweigs Schaffen nicht unterschätzt werden. In den sechs hier versammelten Novellen und Legenden »Im Schnee«, »Die Wunder des Lebens«, »Untergang eines Herzens«, »Rahel rechtet mit Gott«, »Buchmendel« und »Der begrabene Leuchter« gelingt es Zweig, die jüdische Thematik immer wieder subtil aufscheinen zu lassen.

Die Texte stammen aus den Jahren 1901 bis 1936 und sind teils als eigenständige Publikationen, teils in Sammelbänden erschienen. In dieser Form werden sie hier erstmals gemeinsam veröffentlicht.

Zum Autor

Stefan Zweig, wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und starb am 23. Februar 1942 in Petrópolis bei Rio de Janeiro. Er studierte Philosophie, Germanistik und Romanistik in Berlin und Wien, reiste viel in Europa, nach Indien, Nordafrika, Nord- und Mittelamerika. 1938 emigrierte Zweig nach England, ging 1940/41 nach New York, dann nach Brasilien, wo er sich 1942 das Lebennahm.

»Er war in seiner Zeit weltweit einer der berühmtesten und populärsten deutschsprachigen Schriftsteller. Seine unter dem Einfluß Sigmund Freuds entstandenen Novellen zeichnen sich durch geschickte Milieuschilderungen und einfühlsame psychologische Porträts aus, in denen die dezente, doch unmißverständliche Darstellung sexueller Motive auffällt. Seine romanhaften Biographien akzentuieren die menschlichen Schwächen der großen historischen Persönlichkeiten.« Marcel Reich-Ranicki