„Wir können nicht über die Kunst schreiben, ohne uns auf die Schönheit zu berufen.“ Adam Zagajewski
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„Zu entscheidender Erschütterung eines Herzens bedarf das Schicksal nicht immer wuchtigen Ausholens und schroff verstoßender Gewalt; gerade aus flüchtiger Ursache Vernichtung zu entfalten, reizt seine unbändige Bildnerlust. Wir nennen dies erste leise Berühren in unserer dumpfen Menschensprache Anlaß …“
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Der Geheime Kommissionsrat Salomonsohn entspricht den Präferenzen seiner Frau, indem er nicht da kurt, wo ihn sein Arzt gern sähe, sondern mit der Familie ein Quartier in Gardone Riviera am Westufer des Gardasees bezieht, heute ein Juwel im Associazione Nazionale Comuni Italiani-Diadem der I borghi più belli d’Italia - … schönsten Orte Italiens. Quelle
In „Untergang eines Herzens“ sehen wir den Helden morgens um vier, aufgeschreckt von einem Schmerz, „der Leib war ihm wie mit scharfen Dauben umschnürt“, Erholung in leichter Bewegung suchen. Salomonsohn schleicht sich aus dem Hotelzimmer, dass er mit seiner Frau teilt, „der Druck … hemmt den Atem“, die Kirchturmglocke meldet die Stunde. Der Honoratior erholt sich, nach den Maßstäben einer angeschlagenen Gesundheit. Er will wieder ins Bett, da nimmt er eine Bewegung auf dem Korridor wahr.
Stefan Zweig, „Jüdische Erzählungen und Legenden“, herausgegeben von Stefan Litt, Jüdischer Verlag/Suhrkamp, 26,-
Stefan Zweig macht es kaum spannend in der 1927 erstmals erschienenen Geschichte. Er schenkt den Lesenden reinen Wein ein. „Eine Täuschung (ist) unmöglich – diese weibliche Gestalt, die abenteuernd von fremdem Zimmer (zurückkehrt)“ … Nun, dann mache ich eben das Versäumnis des Autors ungeschehen, indem ich Sie im Unklaren lasse.
Das angenehme Fluidum bürgerlicher Wohlbestallheit quillt bei Zweig nicht anders durch die Erzählritzen als bei Marcel Proust. Ja, warum nicht. Ich schalte eine verwandte Stimmung dazwischen. Proust bezog sein Bier aus dem Ritz. Seine Geräuschempfindlichkeit war sagenhaft. Er informierte sich auf seltsamen Wegen. Manchmal ließ er sich bei einer Spazierfahrt im Morgengrauen die Nacht berichten. Ihn interessierten die Farben der Federn an Damenhüten. Zu seinen Zuträgern zählte Philippe Soupault. Als Erbe der Renault-Dynastie konnte Soupault von Proust gesellschaftlich in Betracht gezogen werden. Keine Proust-Leserin und kein Proust-Leser kommt ohne solche Schoten rund ums Ritz und um die Korkwände von Prousts Schlafzimmer aus. An ihrem Saum entsteht das Verständnis für eine abgesunkene Welt. Ihre heraldische Ordnung geriet in den Sog der vorläufig letzten Moderne. Proust lieferte mit der Recherche/Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein Mammut der Moderne auch insofern als er mit rückwärtsgewandtem Blick schrieb.
Auch Zweig zeichnet einen anachronistischen Charakter. Der von Gram überschwemmte Patriarch Salomonsohn weiß sich hintergangen. Sein Vertrauen wurde missbraucht.
„Den ganzen Tag schufte ich für sie, sitze vierzehn Stunden im Kontor, genau so wie früher mit dem Musterkoffer auf der Bahn ... nur um Geld für sie zu schaffen, Geld, Geld, damit sie schöne Kleider haben und reich werden ... und abends, wenn ich heimkomme, müde, zerschlagen, da sind sie fort: im Theater, auf Bällen, in Gesellschaft ... was weiß ich denn von ihnen, was sie treiben den ganzen Tag?“
Salomonsohn vermutet einen von langer Hand geplanten Coup. Unter den Touristen im Dunstkreis seiner Familie muss einer sein, der heimlich mit von der Partie ist. Der Zufall hilft ihm auf die Sprünge. Bei einem Spaziergang in der mediterranen Idylle vernimmt Salomonsohn ein Lachen, das lange Musik in seinen Ohren war. Er folgt der Melodie zu einem Tennisplatz. Unter dem „azurnen Himmel“ bewundern drei Herren eine Spielerin. Salomonsohn registriert verstimmt die Anwesenheit des „Conte Ubaldi im lockern Tennishemd, (eines ihm vom Sehen bereits bekannten) Offiziers in seiner straffkleidenden, sehnenspannenden Uniform, und (ein) Herrenreiter in tadellosen Breeches“. „Wie Statuen“ heben sich die „scharf profilierten männlichen Gestalten“ von ihrer Umgebung ab.
Salomonsohn selbst ergibt sich dem Anblick der Reizenden im Zentrum begehrender Aufmerksamkeit.
„Mein Gott, wie schön sie war in ihrem hellen fußfreien Kleid, die Sonne fließend zerstäubt im blonden Haar! Und wie selig diese jungen Glieder ihre eigene Leichtigkeit fühlten in Sprung und Lauf, berauscht und berauschend mit diesem rhythmisch lockern Gehorchen der Gelenke.“
Die Rede ist von Erna, Salomonsohns neunzehnjähriger Tochter.
Außer sich eilt der Vater zum Ortskern von Gardone und erwirbt einen „Knotenstock, dick und klobig, mit eiserner Bergspitze“. Bald findet er Erna, seine Frau und die Schwerenöter in einer Bar beim Whisky-Soda. Erna zieht ihn in die Gruppe.
„Herr von Medwitz nimmt uns mit in seinem Fiat, wir fahren bis nach Desenzano del Garda den ganzen See entlang“, verkündet sie dem Indignierten.
Vorher unterhält man sich mit Jazz, Herr von Medwitz spielt auch Klavier.
Salomonsohns heißer Verdruss spielt keine Rolle. Endlich zieht sich der Düpierte zurück. In der fröhlichen Gesellschaft hat er nichts verloren.
Die Sache klärt sich nicht auf. Sie wendet sich nicht zum Guten. Salomonsohn verschließt sich vor seinen Angehörigen, um ihnen zu verhehlen, was sie nichts mehr angeht. Mit gebrochenem Herzen reist er vorzeitig ab. Auch in den häuslichen vier Wänden isoliert er sich.
Aus der Ankündigung
Stefan Zweig ist einer der erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache. Berühmt wurde er durch seine romanhaften Biographien, aber sein Werk zeichnet sich besonders durch eine Vielzahl an Novellen aus, die bekannteste ist wohl die Schachnovelle, sein letztes Werk, die posthum 1942 in Brasilien erschien.
Auch wenn Zweigs jüdische Herkunft in seinen Werken keine prominente Rolle spielt und er den jüdischen Kontext in seinen Werken nie besonders herausgestellt hat, darf dessen Bedeutung für Zweigs Schaffen nicht unterschätzt werden. In den sechs hier versammelten Novellen und Legenden »Im Schnee«, »Die Wunder des Lebens«, »Untergang eines Herzens«, »Rahel rechtet mit Gott«, »Buchmendel« und »Der begrabene Leuchter« gelingt es Zweig, die jüdische Thematik immer wieder subtil aufscheinen zu lassen.
Die Texte stammen aus den Jahren 1901 bis 1936 und sind teils als eigenständige Publikationen, teils in Sammelbänden erschienen. In dieser Form werden sie hier erstmals gemeinsam veröffentlicht.
Zum Autor
Stefan Zweig, wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und starb am 23. Februar 1942 in Petrópolis bei Rio de Janeiro. Er studierte Philosophie, Germanistik und Romanistik in Berlin und Wien, reiste viel in Europa, nach Indien, Nordafrika, Nord- und Mittelamerika. 1938 emigrierte Zweig nach England, ging 1940/41 nach New York, dann nach Brasilien, wo er sich 1942 das Lebennahm.
»Er war in seiner Zeit weltweit einer der berühmtesten und populärsten deutschsprachigen Schriftsteller. Seine unter dem Einfluß Sigmund Freuds entstandenen Novellen zeichnen sich durch geschickte Milieuschilderungen und einfühlsame psychologische Porträts aus, in denen die dezente, doch unmißverständliche Darstellung sexueller Motive auffällt. Seine romanhaften Biographien akzentuieren die menschlichen Schwächen der großen historischen Persönlichkeiten.« Marcel Reich-Ranicki