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2022-07-26 09:10:07, Jamal

Universelle Ausstrahlung eines philosophischen Daumenlutschers

„Ausstrahlen! Und das nicht nur weltweit, sondern universell. Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution.“ Thomas Bernhard

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„Auf Goethe, den philosophischen Kleinbürger ... den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt ... und (ihre) Binsen... gebündelt hat.“ TB

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„Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen.“ TB

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„Er war mein großer Erklärer, der erste, der wichtigste, im Grunde der einzige.“ Thomas Bernhard über seinen Großvater, den Schriftsteller Johannes Freumbichler Quelle

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„Im Kampf der Generationen verbünden sich die Enkel mit den Greisen.“ Jean-Paul Sartre

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„Die Co-Piloten der Gesellschaft sind ihre Außenseiter, Intellektuelle, Kranke und Künstler.“ Peter Fabjan

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„Persönlichkeiten mit großer suggestiver Kraft können in Zeiten historischer Machtleere und Orientierungslosigkeit Menschen in den Abgrund reißen.“ PF

„Bei einer „Sonderung der Wirklichkeitsbegriffe“ entwickelt Hans Blumenberg vier Modelle, nach denen „Wirklichkeit konzeptuell und metaphorisch strukturiert wird. In der Antike ist das die Realität der momentanen Evidenz, bei der das Wirkliche unmittelbar erfahren wird und keines weiteren Beweises bedarf.“

Zitiert aus Hans Jonas, Hans Blumenberg, „Briefwechsel 1954-1978 und weitere Materialien“, erschienen im Suhrkamp Verlag

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Ein Gesicht mit prophetischen Zügen

Ein karitatives Element hemmt den Erzählfluss. Einem Maximalisten stellt sich der Halbbruder als „Helfer in der Not“ zur Seite. Für ihn sind die Bernhards dieser Welt Leute, die der Gesellschaft „das Gesicht (geben), in einzelnen Fällen auch mit prophetischen Zügen“.

Peter Fabjan, „Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard“, ein Rapport, Suhrkamp, 24,-

Innere Taubheit

Thomas Bernhard war mit Peter Fabjan einverstanden. Kompetent attestiert der Arzt dem Schriftsteller eine „innere Taubheit, was das Fühlen eigenen Daseins angeht“.

Fabjan muss sich hüten („auf der Hut sein“) vor dem Kolossalverächter. Er greift zu akademischen Listen, vermeidet den „Übertragungsmechanismus“, redet mit dem Verwandten wie mit einem Kranken, wenn es denn sein muss.

Vorfamiliäre Verbindung

Thomas stammt aus einer vorfamiliären Verbindung der gemeinsamen Mutter Herta. Jene erkennt, „wie Thomas später schreibt, in ihm ständig seinen Erzeuger (den Zimmermann Alois Zuckerstätter) und ihre eigene Schuld an seiner Existenz“.

Die näheren Geburtsumstände sind finster-grotesk. Herta will abtreiben. Sie scheitert an ihrem Vorhaben und bringt das Kind am 9. Februar 1931 in einem von Ordensschwestern geführten, niederländischen Ledigenheim zur Welt. Sie gibt es zu Leuten und holt es schließlich in ihr Elternhaus. Fabjan schildert den literarisch ambitionierten Hausherrn Johannes Freumbichler als einen von bäuerischem, wenn auch nicht tätig bäurischen Stolz und Eigensinn erfüllten, von Sendungsbewusstsein getragenen und von Selbstzweifeln weitgehend verschont gebliebenen Solitär. Seine Erfolglosigkeit trägt der Patriarch als Adelsausweis und Dornenkrone.

Ein Detail gefällt mir besonders. Der Enkel bemerkt, dass die zahlreichen Freum-, Frein- und Friembichler im deutschsprachigen Alpenraum im weitesten Sinn eine Familie bilden, und die Varianten ihren trivialen Grund in Schludrigkeiten der Kirchenbuchführer finden. „Je nach Gehör und Laune des (waltenden) Pfarrers“ kamen die Schreibweisen zustande. Zieht man das in eine Klammer mit den vielen unehelichen Kindern und verwinkelten Kombinationen ... der geschiedene Mann einer Halbschwester wird als Gatte von Bernhards Ururgroßmutter zum Stiefvater der Urgroßmutter ... begreift man, dass Bernhards Tiraden eine Wirklichkeit an- und abgreifen, die so irre ist, dass keine Erfindung ihr das Wasser reichen kann.

Als Gegenstück lässt sich der Großvater väterlicherseits betrachten. Peter Fábián stammt aus einer Bauernfamilie im ungarischen Kisszékely. Er dient der k.u.k. Armee in Graz, wo er seine künftige Frau kennenlernt. Sie arbeitet als Küchenhilfe im Schloss des Grafen Wimpffen. Mit ihr zieht Peter Senior nach Wien. Da ergibt sich für ihn eine Stellung als Pferdebursche in einer Brotfabrik. Die Großstadt verprellt das Landei. Der Enkel beschreibt den alten Peter als Kettenraucher und Spiegeltrinker in einer ambulanten Höhle der Verdrießlichkeit. Peters Sohn Peter kommt als Freund von Hertas Bruder Rudolf Harald im Rang eines Friseurlehrlings ins Freumbichler-Haus.

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Das 19. Jahrhundert ist ein außereheliches Rodelrodeo, soweit es Bernhards Ahnen betrifft. Die Kinder lediger Mütter wachsen bei irgendwelchen Großeltern auf und machen dann so weiter wie es die Altvorderen vorgemacht haben.

„Es ist Marias drittes Kind, denn bereits 1866 brachte sie, ebenfalls unehelich, die Tochter Franziska zur Welt, die bei den Großeltern aufwächst. Franziska bleibt zunächst ledig und heiratet eines Tages den Schneider Karl Bernhard, ihren ehemaligen Schwager, der von ihrer Halbschwester Anna geschieden wurde.“

Bürgerlich geht anders.

In der familiären Umgebung von Bernhards Urgroßmüttern reklamiert man gleichwohl eine illustre Abstammung im Dunstkreis napoleonischer Desaster und mit Hinrichtungen quittierter Konspirationen. Von der Epauletten-Verve ist eine Generation später nichts mehr übrig. Der bis zum Wahnsinn von sich eingenommene Johannes Freumbichler verführt eine verheiratete Frau zur Verachtung des Bewährten. Sie bricht aus ihrer Ehe aus und erleidet als Ausgestoßene das Dasein einer Haushaltshilfe mit weiten Fußwegen. Freumbichler gibt den Spitzweg in der Mansarde. Aus der Tragik einer Verführten schmiedet er sein Romandebüt und wird damit nicht fertig.

„Johannes Freumbichler ist von seiner Berufung als Dichter überzeugt und schreibt unermüdlich an seinem ersten Roman, dem Eheroman Julia Wiedeland, es ist die Geschichte seiner Frau.“

Das Phänomen zieht sich durch die Bereiche. Freumbichler verweigert jede Brotarbeit. Unverheiratet pflanzt er sich fort. Unter anderem entsteht Bernhards Mutter Herta. Als alleingelassenes Kleinkind verursacht sie den Tod eines Bruders im Säuglingsalter.

„Die etwa dreijährige Herta, von den Eltern mit dem Säugling allein gelassen, häuft auf das in einem Gitterbett schreiende Baby so lange Holzscheite, bis das Schreien aufhört. Der Säugling ist tot. Als die Eltern zurückkommen“, gilt die einzige Sorge der Vertuschung.

Herta wächst in der fürsorgelosen Dominanz eines Vaters auf, der eine poetische Niederschrift schwerwiegender findet als sämtliche praktischen Belange des Familienlebens. Bernhards Großvater liefert einen Maßstab für künstlerische Rücksichtslosigkeit. Er sondert die Tochter in einem marottenhaften Lebensbetrieb ab. Für dilettantisches Homeschooling zahlt sie mit Schreibschwäche. Unqualifiziert muss sie sich als Haushaltshilfe verdingen. Sie versklavt auch die Erwartung des Vaters, ihren kargen Lohn daheim abzuliefern. Herta wird ledig schwanger. Sie fährt nach Holland, will ein werdendes Genie abtreiben. Das misslingt. In einem Heim für unverheiratete Gebärende kommt Thomas zur Welt.

Es ist alles schrecklich und das Schreckliche trägt Herta mit sich herum. Sie trägt es aus in ihrem Sohn, der seinerseits nun fürchtet, von „innen zu erfrieren“.

Der alte Freumbichler mag ein famoser Mundartdichter sein. Noch besser beherrscht er das Schinden seiner ins Geschirr gestellten Angehörigen. Er nutzt nicht allein die Ergebenheit der Tochter, um sozial auf Deck zu bleiben. Gefügig macht er sich auch den eifrigen Autodidakten Emil, der die ledig zur Mutter gewordene Herta wohl auch deshalb heiratet, weil ihm die Modalitäten des Familienanschlusses behagen. Emil bewundert den alten Meister. Er wischt dem Schwiegervater hinterher und lässt ihn profitieren auch von Kriegserlebnissen auf Korčula, einer kroatischen Insel in der Adria vor Süddalmatien. Der komod daheimgebliebene Freumbichler schlachtet den Landser-Riemen literarisch aus.

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen/ Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,/ Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen./ Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus/ Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;/ Dann kehrt man abends froh nach Haus.“ Goethe, Faust 1

„Der Schwiegervater Freumbichler profitiert von den im Fronturlaub wiedergegebenen Erzählungen und schreibt Die Perlenstickerin von Cattaro.“

Infam heiter

Skeptisch begleitet der Sohn Herta Paula Bernhard in die Ehe mit dem „attraktiven“ Emil Fabjan. Der Mann ist zehn Jahre jünger. Herta buhlt um ihn. In einem Wirbel der Umtriebigkeit hält sich Emil selbst den Rücken frei. Das mitgebrachte Kind fühlt sich von der furiosen Hinwendung der Mutter an den Nicht-Vater verraten. Vor dem Volksgerichtshof der üblen Nachrede changiert es zwischen Ballast und ‚Bankert‘. Einer älteren, nun fragwürdigen Leidenschaft dient es als Beweis.

Fabjan legt die Effektspur der indirekten Beleuchtung. Er habe von der „Fürsorge“ der Mutter und der „Robustheit“ seines Vaters profitiert, während der Halbbruder sich von dem Familienprogramm nicht mitgenommen fühlte.

Trotzdem beschreibt sich Bernhard privat als „positiven Menschen“. Seine Suaden müsse man „spiegelverkehrt“ auffassen, erklärt er seinem Eckermann, der auch als Leibarzt die verschwiegene Umsicht walten lässt, nach der Bernhard lechzt. Er feiert das Entre nous mit einem Ergebenen. Der Schriftsteller verhehlt im kleinen Kreis seine eigenen Kleinlichkeiten nicht. Er zeigt sich heiter-infam mitunter. Hoch stimmt ihn, sich „durchgesetzt“ zu haben.

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Man muss sich Thomas Bernhard als einen zufriedenen Menschen vorstellen.

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Nach eigener Angabe teilt Fabjan mit dem Bruder „das Talent zur Analyse und Abstraktion“. Peter, der Kür & Pflicht seines Lebens in einem Aktivraum des Bürgerlichen absolvierte, erinnert sich an den berühmten Bruder auf die denkbar seriöseste Weise. Er will für sich nichts herausholen, sich nicht darstellen: das ist schon einmal schön.

Bernhard besteht auch dem Bruder gegenüber auf Distanz. Gleichzeitig räumt er Peter familiäre Rechte ein. Bernhard bestellt Fabjan zu seinem Nachlassverwalter, auch weil der Künstler an dem Soliden dessen Zurückhaltung schätzt.

„Bernhard meinte, ich hätte damit eine zweite Karriere. Auf mein Warum antwortete er: Weil dir Geld nicht so wichtig ist.

Aus der Ankündigung

»Du musst das halt in meinem Sinn machen«, trägt Thomas Bernhard seinem Halbbruder Peter Fabjan auf, als er spürt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Und der sieben Jahre Jüngere gehorcht und übernimmt die Verantwortung, dieses Mal für ein schwieriges Erbe – so wie er es immer getan hat von Jugend an, wenn ihn der Ältere gebraucht hat. Den anderen galt er als »der liebe Bruder«, Fabjan selbst sieht sich eher als »Helfer in der Not«, denn oft genug fand er sich in der Rolle des Chauffeurs und dienstbaren Geistes wieder, der am Nebentisch saß, während der Bruder mit Persönlichkeiten aus Politik und Kunst parlierte.

Peter Fabjan, Bruder und gleichzeitig behandelnder Arzt Thomas Bernhards, gibt in seinen Erinnerungen einen Einblick in das Leben an der Seite, besonders aber auch im Schatten des österreichischen Dramatikers und Romanschriftstellers, der Weltruhm erlangte. Er erzählt von den schwierigen und vielfach belasteten familiären Verhältnissen genauso wie von der Kriegskindheit, von gemeinsamen Reisen in die USA oder nach Portugal und von seinen Bemühungen um das Leben seines von langer und schwerer Krankheit gezeichneten Patienten. Ein offenherziger, freimütiger und ehrlicher Bericht.

Zum Autor

Peter Fabjan, geboren 1938 in Traunstein (Bayern), studierte Medizin in Wien und war bis 2001 als Internist tätig. Nach Thomas Bernhards Tod übernahm er die Betreuung des Erbes seines Halbbruders. Er gründete das Thomas Bernhard Archiv, die Thomas-Bernhard-Privatstiftung und die Internationale Thomas Bernhard Gesellschaft, deren Ehrenpräsident er ist. Peter Fabjan lebt in Gmunden (Oberösterreich).