© Jamal Tuschick
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Glühbirnen säumten Biergärten. So hell war eine Nacht noch nicht gewesen. Lauere Nächte gab es höchstens in Italien. Cole zahlte mit Scheinen, die er aus der Brusttasche seines Holzfällerhemdes fischte. Einfache Verhältnisse. Es wurde viel getrunken, vor allem Tequila, während aus Berlin, Hamburg und München eingefallene, ursprünglich Kasseler Generationsgenoss:innen* die ortsübliche Beschaulichkeit zunichtemachten. Die Abtrünnigen absolvierten in den Semesterferien den Familienparcours. Allenfalls halbwegs eingefangen vom Vertrauten, vermaßen sie jene Spanne, die sie den Finanziers ihrer Eskapaden einräumen mussten. Vor einem Jahr waren sie in die Großstädte gezogen und hatten sich dort ruckzuck in Prinzen und Prinzessinnen verwandelt. Sie sahen auf die Zurückgebliebenen herab. Was auch immer sie in den Metropolen darstellen mochten, in Kassel setzte ihr Hochmut Maßstäbe. Als Cole vor dem Blue Days aufkreuzte, war Lien erleichtert. Und er, wie sie geblendet vom Glanz der Verkünderinnen neuer Spielregeln, schlug vor in Bellas Bierkontor abzutauchen.
Die Französin entdeckte sie zuerst. Sie schrie: „Da vorne geht die Unterbelichtete.“
Luana sah Lien, ein als Hindernis von der gegen sie anrennenden Menge kaum wahrgenommener Körper; in einem Strom, der sich auf den letzten Metern vor dem Club verjüngte, bis er zwischen Autos und luftschöpfenden Gästen versickerte; dass jeder vor seinem Eintritt durch eine Bewertungsgasse defilierte.
Über den Köpfen klang nach, was von der herrschenden Stimmung unbestimmter Verheißung leicht genug war aufzusteigen.
Luana hupte und trat aufs Gas. Der giftgrüne Lancia Beta Berlina ihrer Mutter schoss an Lien und Cole vorbei. Luana stoppte hundert Meter weiter und setzte mit quietschenden Reifen zurück.
Lien ignorierte die Exaltation. Nichts von dem, was ihre große Schwester unter einem gelungenen Abend verstand, passte ihr in den Kram. Sie flutschte um die nächste Ecke, um für die Feiertölpel unerreichbar zu werden. Cole blieb ihr auf den Fersen. Er kannte Liens Manöver.
Solange sie zurückdenken konnte, war Cole in Liens Nähe gewesen. Sie war in seinem Dunstkreis aufgewachsen. Muss man, um das Verhältnis zu verstehen, wissen, dass Coles Großtante Maeve als Tochter einer Vulkanologie-Professorin ihre Kindheit und Jugend in Japan verbracht hatte?
„Auf der Landkarte kann man sehen, wie die alte Mera-Fernstraße, die über die Berge von Kyūshū bis nach Kumamoto führt, das Zentrum der Stadt S. durchzieht.“ Keiichirō Hirano, „Das Leben eines Anderen“
Der erste Schauplatz eines vorbildlichen Lebenslaufs liegt verschwiegen auf der Kaiserinsel Kyūshū in der Präfektur Miyazaki. Nach einer Legende herrschte da die erste japanisch gelesene Königin oder fürstliche Schamanin Himiko, abgeschirmt von tausend Dienerinnen. Im Mittelalter florierten auf Kyūshū koreanisch inspirierte Porzellanmanufakturen. Eine breitflächige Christianisierung führte 1637 zu einem Bauernaufstand, der Shimabara-Rebellion unter Masuda Tokisada, den seine Gefolgsleute als eine Art Jesus ansahen.
Grandiose Kaldera-Formationen prägen die Landschaft. Die erdgeschichtlichen Verwerfungsexzesse liefern malerische Kulissen für schlagartige Entvölkerungsprozessionen. Manche ergötzen sich am Verfall.
In dieser Gegend lernte Maeve Iaidô, die Kunst, das Schwert zu ziehen, Kalligrafie, Zen-Kontemplation und Kyokushin Karate. Nach ihrer Rückkehr etablierte sie sich als malende und dichtende Mittelpunktpersönlichkeit. Auf der beinah noch nachkriegsschäbigen westlichen Rückseite des Wilhelmshöher Lokalbahnhofs zog sie das Himiko Dōjō auf. Es war viel mehr ein Nachbarschaftszentrum als eine Sportschule. Maeve genoss das Vertrauen einer weitgehend bürgerlichen Klientel. Lange bevor dem Stadtteil der Kurstatus zuerkannt wurde, sprach man schon vom Bad Wilhelmshöhe.
Das Dōjō diente Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Ausstellungen. Es gab eine Tischtennisplatte und einen Tischfußballkasten. Bei Kaffee und Kuchen in der Klatschspalte herrschte ein ständiger Austausch mit regelmäßigen Basar- und Tauschbörse-Terminen. In diesem Klima fanden viele Mütter ihre Kinder gut aufgehoben. Liens Mutter meldete ihre Töchter in Maeves Schule an, als die Mädchen fünf waren. Gemeinsam durchliefen sie die Grundschule. Danach verweigerte Luana Meisterin Maeve die Gefolgschaft. Fortan erachtete Lien ihre Schwester als Niete. Luana war bloß noch eine Nervensäge im Mutterhaus. Stattdessen fühlte sie sich blutsgeschwisterlich mit Maeves Großneffen verbunden. Auch für Cole gab es von jeher nichts als Karate.
Lien leitete die Frauenleistungsgemeinschaft. Das war eine in dreifacher Hinsicht irreführende Bezeichnung. Von den dreißig Schülerinnen war keine volljährig. Keine fünf nahmen an überregionalen Konkurrenzen teil. Von einer Gemeinschaft konnte auch nicht die Rede sein. Man trainierte viel mehr gegeneinander als zusammen. Lien interpretierte ihre Führungsaufgabe. Sie führte den Begriff des Nachschleifens ein. Damit verbanden sich Solostrapazen nach dem regulären Trainingsschluss.
Niemand stellte Liens harsches Gebaren in Frage. Im Kern der Hinnahme steckte fassungslose Gleichgültigkeit. War doch bloß Training. War doch egal, ob Lien heiß lief. Sie konnte sowieso keiner was. Jedenfalls keiner aus dem Kreis der Wilhelmshöher Töchter, die auf ihre Weise doch den Ton angaben. Die Bessergestellten setzten die Armenhäuslerinnen herab, auch wenn sie mit fünfzehn bereits Dan-Trägerinnen waren.
Lien, deren Mutter als leitende Ingenieurin bei CAP arbeitete, bedachte kaum je den Klassenkampf im Kader. Sie gehörte zu der Augen-zu-und-durch-Fraktion. Was sie nicht umbrachte, machte sie stärker. Lien reichte es, dass sie keine Aufstände niederschlagen musste. Der hinterhältige Widerstand bewies ihr nur, dass die Feindinnen nicht offen aufzumucken wagten. Einen letzten Unsicherheitsrest bekämpfte sie, indem sie sich mit Cole verstärkte.
Bald mehr.