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2022-08-09 08:24:46, Jamal

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© Jamal Tuschick

Freerunning - Die Stadt als Parcours

Vorbei am Schlaf von Zweihunderttausend. Auf ihrer Linie gibt es keinen Punkt, auf dem sie nicht schon gepumpt haben. Liegestütze, Situps, Rumpfbeugen. Eine möglichst verspielte Überwindung von Hindernissen. Lien und Cole nutzen jede Gelegenheit für Kraft und Dehnung. So reden sie: Wir machen Kraft. Wir gehen in die Dehnung.

Lien und Cole finden sich geil. Sie steigern den autoerotischen Swing, indem sie sich gegenseitig feiern. Das sieht gut aus, Baby.

Lien und Cole beziehen sich auch auf Georges Héberts Méthode naturelle. Sie verwenden Traceur-Vokabular: Atterrissage, Équilibre, Franchissement.

Leute, die sich in der Welt auskennen, bezeichnen Stadtläufe als Freerunning. Unter sich nennen Lien und Cole ihr Programm Geesink-Endurance-Runs. Sie ehren so Anton Geesink. Er war 1961 der erste nicht-japanische Judo-Weltmeister.

Er verdankt seinen überwältigenden Erfolg die Ausweitung des traditionellen Judotrainings. Er nutzte jede Gelegenheit zur Verbesserung seiner Fähigkeiten und sprengte dabei die üblichen Rahmen. Lien und Cole betrachten Geesink als Pionier des Parkour. Der Niederländer ist in seiner Geburtsstadt geblieben und lebt in einer Straße, die seinen Namen trägt. Davon träumen Lien und Cole. Sie wollen nie aus Kassel weg.

Das Nachtgeschäft ist wie Milch in einer Lichtschale, eine trübe See mit gefährdeten Inseln, die verschwappen. Wahnsinnig von Hitze laufen Trebegänger:innen* auf Skateboards Amok. Über Kühlerhauben springen sie auf den Zierbrunnen vor dem Lokalbahnhof Wilhelmshöhe. Lien und Cole lassen den tristen Auftrieb hinter sich. Sie haben noch viel vor. Vor ihnen liegt ein steiler Aufstieg zu den Herkules-Kaskaden.

Sie werfen einen Blick auf ihre heiligen Hallen hinter dem Bahnhof. Cole wohnt im Dōjō seiner Großtante Maeve, Lien nicht weit weg davon in der Landgraf-Carl-Straße.  

Zwischen Exerzitium und Exerzieren

Maeve ist auf der Kaiserinsel Kyūshū in der Präfektur Miyazaki aufgewachsen. Nach einer Legende herrschte da die erste japanisch gelesene Königin oder fürstliche Schamanin Himiko, abgeschirmt von tausend Dienerinnen. Die Tochter der Kasseler Vulkanologin Antigone von Pechstein folgt beinah von Geburt dem Budo Path von Ōyama Masutatsu sowie Chiba Shūsakus Hokushin Ittō-ryū. Nun gibt sie ihr Wissen weiter an uns Nordhessen. Ich schalte mich kurz ein, nur um mich vorzustellen. Mein Name ist Nikolaus Graf Speer zu Schauenburg. Seit zwanzig Jahren unterrichtet mich Maeve von Pechstein in meinem Haus. Ich bin ihr reichster und intelligentester Privatschüler. Stets beglücke ich Meisterin Maeve (Sukii Shihan San) mit einer schottisch-japanischen High-Tea-Zeremonie im Anschluss an unser Exerzitium.

Illuminiertes Ziel

Nikolaus, für seine Freund:innen* Kola, praktiziert in seinem eigenen Dōjō, das, im verkleinerten Maßstab, dem Chiba Shūsaku Narimasa Dôjô nachempfunden ist. Für Kola geht nichts über Karate, Schwertkampf und Geschichte.

*

In der Rolle der Schrittmacherin zieht Lien an; inzwischen laufen die Unentwegten im Park Wilhelmshöhe. Sie haben den Herkules vor Augen. Das Kasseler Wahrzeichen ist ihr illuminiertes Ziel.

Vorbildlich erscheint Herkules den Karateka. Der Olympier musste zwölf Aufgaben meistern, angefangen bei der Tötung des nemeischen Löwe, dessen Fell Panzerqualitäten hatte. Herkules verstand es, das Tier an seinem Schwachpunkt zu überwinden. Stichwort Achillesferse.

Es lebt ein Geschlecht herablassender Halbgötter unter uns, das sich nicht einfach zu erkennen gibt. Cole lässt sich zurückfallen, um Lien Auftrieb zu geben. Sie führt gern, er, obwohl wenig älter, ist ein guter Lehrer. In ihm arbeitet die Prädestination. Jedenfalls behaupten das die Augur:innen* der Stadt.

Aufgewachsen in der großmeisterlichen Aura seiner Großtante Maeve, verfügt der Neunzehnjährige bereits über No-Inch-Power und Magic-Force-Skills im Taifunklassensegment. Ich fürchte, so weit wird Lien nie kommen. Sie bockt und trotzt. Verausgabt sich. Tritt über ihre Ufer. Fährt aus der Haut. Versäumt das tägliche Karategebet. Die geistigen Grundlagen sind ihr wumpe.

Noch bietet Lien ihren Widersacher:innen* brauchbare Widerstände. Sie weiß vieles nicht, dass Cole als Maeves Mündel im Alltag aufschnappte: 

Become one with the incoming force.

Sois sans souci.

The movement comes from the release, not from the contradiction.

Free yourself from all unnecessary tensions.

You think force. I think center.

Bärenstarke Kaninchen fegen aus dem Unterholz und kreuzen die Bahn der Aufsteigenden. Leuchtspurgeschoße malen Magnesiumstreifen an den Himmel. Geblendet von der Schönheit des Schauspiels setzen Lien und Cole über umgehauene Bäume, die wie lang hingehauene Kadaver im Gras liegen; ein Ausschnitt der jüngsten Tornadoernte.

Furios werfen sie ihre Sachen ab und stürzen in das Felsbassin der Teufelsgrotte. Manchmal hängen die Dinge einfach zusammen. Einst gehörte die Grotte zum Augustiner-Chorherrenstift Weißenstein.

Wir erinnern uns an das Jahr 1143. Kassel ist noch lange nicht Residenzstadt, vielmehr ein Appendix karolingisch-anachronistischer Herrschaft, gelegen an einer Fuldafurt. Beim Urlaub in der alten Heimat Fritzlar trifft Stiftschef Bruno von Pechstein seine Nichte Mechthild. Sie ist Tochter eines Ritters, die Pechsteins sind niederhessischer Uradel. Sie setzen sich auch für Mainzer, Thüringer und Ziegenhainer Interessen ein, sofern der Preis stimmt. Noch ist das Waldecker Land, zu dem Fritzlar geografisch gehört, in Thüringer und Mainzer Hand. Die gleichzeitigen hessischen Ansprüche konkurrieren untereinander. In diesen Konkurrenzverhältnissen entfaltet sich die Pechstein Doktrin. Verwüsten Pechsteins Reiter ein Dorf, dann geht es nach ihren Rechtsbegriffen nicht armen Landsleuten an den Kragen. Die Haudegen spießen Leute auf, die nach allgemeiner Rechtsauffassung keinen Grund kennen, sich als rechtsfähige und ehrbare Personen zu begreifen. Sie sind Gente sin razón. Der spanische Rechtsbegriff koinzidiert mit einer interessanten Figur. Die spanische Kolonialverwaltung erkannte im lateinamerikanischen Ethno-Mix ab 1492 einen Typus sin ombligo - ohne Nabel - als verbindungslose Erscheinung.

Von Mechthild erfährt Propst Bruno, woran es in Fritzlar fehlt. Man braucht ein Krankenhaus. Der Cousin sagt: „Okay, ich stifte dann mal ein Spital.“

So sammelt Bruno Paradiespluspunkte. Als Organisationsstruktur bietet sich ein Kloster an. Augustiner* fördern Augustinerinnen* und fertig ist die Laube ab 1145. Pechsteiner engagieren sich auf der Führungsebene, bis der protestantische Landgraf Philip 1530 den katholischen Pflegedienst einstellt. Und wie heißt die letzte Mater? Gertrud von Pechstein, mich wundert das nicht. Zur Kompensation ihrer Verluste kriegt sie einen schäbigen Flecken im Edertal, der ihr bereits gehörte, bevor er eine Wüstung war. Ich rede von Berningshausen. Der alte Reinhard von Dalwigk hatte das Dorf in Schutt und Asche gelegt.

Die zweite Luft

Das haben Lien und Cole natürlich nicht parat. Schon weicht die Nacht von der Landschaft, während die Unentwegten, nass noch, die Kaskaden stürmen. Über ihnen leuchtet der Herkules. Ein Laserstrahl zielt auf seinen Scheitel.

„Mir ist, als würde ich nie wieder müde“, keucht Lien.

„C‘est le deuxième air“, erklärt Cole verschwiegen. Er könnte so viel sagen. Doch lieber schlägt er eine Verlängerung der Strecke vor. Die Meisterschülerin und ihr Lama werden auch noch den Weg zu den Elfbuchen zurücklegen. Sie leben im Kult und atmen Karate.

Bald mehr.