Masern auf Steroiden
In seinem jüngsten Roman erzählt Christoph Peters vom hauptstädtischen Haifischbecken im zweiten Jahr der Pandemie. Ein Jahr zuvor war das Corona-Risiko vom Leiter des Robert Koch Instituts noch als „mäßig“ eingestuft worden. Auch der Chef-Virologe der Charité wähnte Deutschland auf der sicheren Seite. Man war sich einig. Gemeinsam mit dem Rest der Republik kritisierten Expert:innen* die chinesische Führung, die uns Bilder gespenstisch leerer Straßen offerierte. Wir wussten, das war alles gefiltert und von der Partei geklärt, vor allem jedoch auf Asien beschränkt; während die ersten deutschen Freibeuter:innen* in Krankenhäusern Masken und Desinfektionsmittel einsackten. Ein Jahr später konstatierten wir gemeinsam einen Digitalisierungsschub in der Konsequenz von Corona. Die Zahl jener, die im Pyjama am Rechner der sozialen Kontrolle entgingen, stieg.
Heimarbeit ist ein alter Hut. Von jeher entlastet sie die Umwelt. Peters Held, der kratzbürstige Kurt Siebenstädter, schiebt nach wie vor Frühschichten in der Öffentlichkeit einer Rundfunkanstalt. Seine Stimme hören Millionen, während sie sich für den Tag rüsten.
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Sehen Sie ferner hier.
Troll der Bürgerlichkeit
„Corona ist wie Masern auf Steroiden.“ Doktor Itai Pessach in einem FAZ-Interview Quelle
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„Die körpereigenen Abwehrsysteme sind biologische Wunder, doch … Keime und Viren (bleiben) unschlagbare Angreifer.“ Ina Knobloch
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Wenn Ina Knobloch in ihrer Einordnung „Shutdown - Von der Corona-Krise zur Jahrhundert-Pandemie. Notfall-Pläne, biologische Kriegswaffen, unkontrollierbare Ausbrüche: Warum das Zeitalter der Killervirus-Pandemien angebrochen ist“ (Droemer Knaur) meinte, die Chines:innen* seien wegen ihrer Verheimlichungen nicht gut im Krisenmanagement, dann ignorierte der Vorwurf chinesische Prioritäten.
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Unter den Radiomoderator:innen* mit bundesweiter Ausstrahlung erscheint Kurt Siebenstädter als kantiges Urgestein, wenn auch inzwischen - zu Beginn des zweiten Pandemiejahrs - Joe Biden ist bereits Präsident, der „Psychopath“ Trump klebt aber noch am Thron - wie auf Bewährung. Sein Markenzeichen, eine überparteiliche, niemanden verschonende, mitunter „glasige Fassungslosigkeit“ hervorrufende Unverfrorenheit, kollidiert mit den Kodes der Dreißigjährigen. Der halbgreise Babyboomer fürchtet den Shitstorm zum Karriereaus infolge einer Bemerkung, die gestern noch keine funkaffine Zeitgenossin gejuckt hätte; die auch auf der anderen Seite einfach so durchgewunken worden wäre, von Entscheider:innen*, die nun selbst aufs Messers Schneide jonglieren. Die Führungskräfte wirken wie verängstigte Dinosaurier. Mit vorauseilendem Gehorsam versuchen die lebenden Fossilien ihren Hals aus den Schlingen einer neuen Zeit zu ziehen.
Christoph Peters, „Der Sandkasten“, Roman, Luchterhand, 22,-
Der Autor meldet Ansehens- und vor allem Gewissheitsverluste der herrschenden Klasse, zu der Siebenstädter allenfalls am Rand gehört. Für das Publikum mag er, ob der unverwechselbaren Stimme und dem scharfen Ton, ein „Radiotribun“ sein, die Regisseur:innen* des „Demokratietheaters“ setzen ihn lediglich als Hofnarren ein.
Siebenstädter ist unglücklich verheiratet und Vater der im Handlungsjetzt dreizehnjährigen Tochter, die immerhin in einem Eigenheim am Volkspark Friedrichshain pubertiert. In der Gegenwart ihrer Freundinnen behandelt ihn Nora wie einen „peinlichen Verwandten“.
Familiäre Angelegenheiten sind für Siebenstädter reizlos. Er führt das falsche Leben, auch als Troll der gut gekleideten Bürgerlichkeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln von Berlin.
Die Pandemie stört den allgemeinen Rummel. Siebenstädter tendiert in Richtung Impfskepsis, denkt er an die Mutter seiner Schwägerin: „86, seit anderthalb Jahren vollkommen dement, erkennt niemanden, stammelt unverständliches Zeug, scheißt sich drei Mal am Tag ein“. Ihm gefällt „die Härte des Gedankengangs“.
Ich schiebe an dieser Stelle etwas dazwischen:
Viraler Ausnahmezustand
Giorgio Agamben veröffentlichte am 26. Februar 2020 einen Artikel mit dem Titel „L’invenzione di un’epidemia“ (Die Erfindung einer Epidemie) in der italienischen Tageszeitung „Il manifesto“. Er spricht darin von „hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notfallmaßnahmen“ und einer bloß „vermuteten Epidemie“.
Jean-Luc Nancy reagierte am Tag darauf mit seinem Text „Eccezione virale“ (Viraler Ausnahmezustand) und kritisierte Agambens Position stark. Sein alter Freund merke nicht, dass in einer vernetzten Welt die Ausnahme zur Regel würde und dass die Regierungen Getriebene dieses normal gewordenen Notstands seien. Dies anzuklagen ginge am Kern des Problems vorbei.
Agamben, so erklärt es Nancy, den Theoretiker des Ausnahmezustands in Schutz nehmend, glaube, „das Coronavirus unterscheide sich kaum von einer normalen Grippe. Er übersieht die Tatsache, dass es für die normale Grippe einen Impfstoff gibt, der sich als wirksam erwiesen hat. Dennoch muss dieser jedes Jahr erneut an virale Mutationen angepasst werden. Die normale Grippe tötet so immer noch einige Menschen, und das Coronavirus, gegen das es bisher keinen einzigen Impfstoff gibt, ist offensichtlich zu einer viel höheren tödlichen Leistung fähig.“
Zitiert nach Jean-Luc Nancy/Volksbühne/Deutsche Fassung: Passagen Verlag 2020/Übersetzung: Hannah Schünemann
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Das Habsburger Reich erwehrte sich der Pest erfolgreich mit einer Befestigung seiner Außengrenzen: einer Sperrzone von Kroatien bis Moldawien. Das Osmanische Reich stellte es mit militärischen Mitteln unter Quarantäne.
„Auf der türkischen Seite des Balkans wütetet die Pest noch bis 1840, auf der österreichischen ward sie nie mehr gesehen.“
Das erzählt der Archäologe Ian Morris unter der Überschrift Covid 19 - Antworten aus der Vergangenheit. Karl Heinz Götze bemerkt in seinem im Merkur erschienenen Aufsatz Der absolute Geist, die Cholera und die Himmelfahrt des Philosophen. Hegels Tod und Bestattung: „Preußen machte (nach dem Choleraausbruch im angezeigten Jahr), was man am besten konnte. Man führte Krieg gegen die Krankheit … Die Cholera lachte darüber und holte am 23. August 1831 … Gneisenau, den Oberbefehlshaber des Preußischen Heeres, im November des gleichen Jahres Clausewitz, den berühmten Strategen.“
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Noch zählt Siebenstädter zu jenen Hauptstadt-Influencer:innen*, um die sich die Alphariege der politischen Ansager:innen* bemühen. Ein besonderes Interesse zeigt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Literaturwissenschaftlerin Maria Andriessen. Siebenstädter trifft sie auf den Allgemeinplätzen der Medien- & Macht-Branchen. Andriessen macht dem Desperado Avancen. Sie lädt ihn schließlich in ihr Büro ein, offeriert ihm da Whiskey. Die Aussichten auf benachbarte Flächen lösen bei dem Besucher eine gallige Reaktion aus. „Er fragte sich, wann das Bedürfnis nach Privatsphäre … einer Art totalitärem Transparenzwahn gewichen war.“
Darum geht es im Roman. Peters skizziert die Grenzen des prominent Sagbaren auf allen gesellschaftlichen Feldern: unter den Vorzeichen eines überall angekommenen Aktivismus. Siebenstädter taugt zum Bauernopfer und Hashtag-Prügelknaben. Vor ihm tut sich gerade die Erde auf. Vom Gipfelpunkt seines muckeligen Maulwurfhügels starrt er in eine Schlucht, die gestern noch nicht da war.
Erstaunlich viele Leute erkennen seine Lage und ziehen ihre Schlüsse daraus. Ein Rechtsausleger macht Siebenstädter ein unmoralisches Angebot, nicht anders als Andriessen. Sie kennt seinen Familienstand. Sie perforiert den Familienschutzschirm.
Aus der Ankündigung
Christoph Peters hat einen Roman geschrieben, wie es ihn seit Wolfgang Koeppens "Das Treibhaus" nicht gegeben hat: eine schonungslose Bestandsaufnahme der politischen Kultur eines ganzen Landes.
Siebenstädter hat schon alles gesehen. Als Moderator einer Politsendung im Radio kennt er sich aus mit den Spielregeln der Berliner Spitzenpolitik, dem Schattenreich der Hinterzimmer, mit der Gnadenlosigkeit eines Betriebs, dem es nur um Machterhalt geht. Siebenstädter ist so beliebt wie berüchtigt, einer, der an gar nichts glaubt und sich prädestiniert fühlt, die Lügen der Eliten aufzudecken. Mit der Coronakrise jedoch verändert sich das Spiel: Siebenstädter hat ebenso Zweifel an den staatlichen Maßnahmen wie Abscheu gegenüber Verschwörungsgläubigen. Unerwartet erhält er das Angebot der Liberalen, die Seiten zu wechseln, während Maria Andriessen, aufsteigender Stern der Sozialdemokratie, sich mehr für ihn zu interessieren scheint, als es bei einem verheirateten Mann angemessen wäre. Vor allem aber spürt Siebenstädter, dass seine Zeit langsam abläuft - warum also nicht alles auf eine Karte setzen?
»Als Leser dieses bitterbösen wie hochkomischen Buchs glaubt man manchmal geradezu in Siebenstädters Kopf zu stecken.« Christian Schröder / Der Tagesspiegel (11. September 2022)
Zum Autor
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018) und dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand der "Dorfroman" (2020) und "Tage in Tokio" (2021).