Das große Frieren
„Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen hatten sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich.“
Dörte Hansen, „Zur See“, Roman, Penguin Roman, 253 Seiten, 24,-
Hanne und Jens Sander nehmen die Wut ihrer Ahnen persönlich, so als wäre die entbehrungsreiche Ära des Walfangs auf Segelschiffen nicht schon seit Jahrhunderten Geschichte gewesen, als sie sich zusammenrauften. Dem Überkommenen ergeben, leben sie in der Handlungsgegenwart getrennt. Eine namenlose Nordseeinsel liefert ihrem Eigensinn den Schauplatz. Ein narrativer Schleif bietet Anhaltspunkte zur Lokalisierung. Offenbar liegt die Insel in Nordfriesland, jedenfalls in Schleswig-Holstein. Vielleicht stand Bordelum ihr Modell.
Der Inselalltag vollzieht sich in Randlagen touristischen Trubels. Die Eingesessenen vermeiden die Hauptrouten der Tagesgäste. Sie sind Pioniere des Pensionswesens. Lange öffnete Hanne ihr Haus Urlauber:innen*, für die sie sich in Schale warf und besser kochte als für ihre Familie. Hannes Kinder teilten die Erfahrung, im Sommer ihre Zimmer für die Gäste räumen zu müssen. Sie fühlten sich als „Luftwesen (und) Flaschengeister“. Zuzeiten setzte man sie zur Unterhaltung der Gäste ein.
Längst ist der Nachwuchs erwachsen und das kontinentale Publikum residiert in Resorts, dem muckeligen Familienanschlussbetrieb vollkommen entfremdet.
Für die - in einer langen Saison massenhaft auflaufenden - Besucher:innen* der rauen Idylle „ist die Nordsee ein Freizeitpark mit Fahrgeschäften“.
„Der Inselwald sieht aus, als hätten Riesen ihn einmal durchgejätet.“
Die wahrhaft Eingesessenen, wahrhaft im Unterschied zu jenen, die sich in antiken Kapitänshäusern vor ein paar Jahren erst eingenistet haben, inzwischen aber ein eigenes, das Ursprüngliche überflügelndes Milieu bilden, gehen den Festländer:innen* aus dem Weg. Bloß wenn es hart auf hart kommt, „drücken sie die Touristen weg wie Brustschwimmer das Wasser“. Da ist noch was übrig vom Hochmut jener Vorfahren, die „auf trockene Berufe“ herabsahen, auf die risikoarm ihr Brot verdienenden „Lehrer, Bauern, Tischler und Bäcker“.
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Ryckmer Sander hält „Stürme (auseinander) wie andere Menschen Vogelstimmen … Er kann … alle schweren Nordseefluten der letzten tausend Jahre aufsagen“. Erwähnung finden die Allerheiligenfluten von 1170, 1436, 1510, 1532, 1570, 1627 und 2006.
Ryckmer kennt sämtliche Ortschaften und Kirchen, die seither vom Meer verschlungen wurden. So wie Bense, Hersbüll, Itzendorf, Osterwohld und Torum.
Ryckmers Gedächtnis bewahrt die Märchen, Mythen und Sagen jener Insel, auf der seine Familie seit dreihundert Jahren ein Herdfeuer in Gang hält. Herrin in einem Haus, „das vermutlich häufiger abgelichtet wurde als der Leuchtturm“, ist Hanne, die dem alkoholkranken Sohn Scheinselbständigkeit ermöglicht. Drakonisch hilft sie Ryckmer bei der Aufrechterhaltung seiner Arbeitsfähigkeit als Decksmann auf einer Fähre. Am vorläufigen Ende verträgt sich selbst die Handlangertätigkeit nicht mehr mit dem Suchtregime.
Zu Ryckmers Suchtverlusten zählt ein Kapitänspatent. Tourist:innen* feiern den „gelernten Schiffsmechaniker“ als „waschechten Insulaner“. Sie sehen ihm die griesgrämige Manier nach. Das raunzende Wesen gehört zu Folklore.
Ryckmers jüngerer Bruder Henrik lebt ganzjährig barfuß „in einer Endlosschleife der Begeisterung“. Für den passionierten Treibgutsammler ist „jeden Tag Bescherung“. Seine Driftwood Art hat aus ihm einen „gemachten Mann“ gemacht.
Von Driftwood führt eine Erzählfurt nach Driftland. Auf der beinah menschenleeren Vogelinsel steht ein Stelzenhaus; Heimstatt eines wahren Schrats, des „Möwenmannes“ Ove Haaren. Auch Jens S. kennt sich aus im Stelzenhaus. Er führt das Leben eines Eremiten halbwegs im Dunstkreis seiner Angehörigen.
Henrik haust nicht allein in seinem Schuppenatelier. Jana übertrifft da ihre Vorgängerinnen an Ausdauer. Ihr begegnet die stürmische Sanderschwester und wild tätowierte Death Metal-Liebhaberin Eske mit struppiger Zuneigung.
„Die Kreaturen ihres Bruders kommen ihr wie Taucher vor, die in der Tiefe Schreckliches gesehen haben.“
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Das Haus der Sanders säumt ein Zaun aus den Kiefernknochen eines Grönlandwals. Wind und Wetter haben dem Relikt der Fernfahrerantike das Ansehen eines ruinierten Gebisses verpasst. Kein Sander hat dafür einen verklärenden Blick übrig.
Tourist:innen* zeigen sich hingerissen von der „geschnitzten Haustür, den Kletterrosen (und) Muschelschalenbeeten“. Bald stiefeln sie weiter zu einem sakralen Kleinod und seinem Impresario. Für die Fremden versieht Inselpastor Matthias Lehmann seinen Dienst als Unikum. Der Geistliche offeriert ihnen „Seelensnacks“, während die Gemeinde auf seelsorgerische Hausmannskost ohne Chichi Wert legt.
Mit seinem weltlichen Charisma und ketzerischen Zweifeln kreist Lehmann zwischen engagierter Zeitgenossenschaft und Traditionspflege. Er liebkost „ausgelaugtes Holz“ in der siebenhundert Jahre alten, nicht zuletzt wegen eines Taufsteins aus dem 14. Jahrhundert sehenswürdigen Kirche.
Auch er organisiert seinen Alltag an den „Tagesrändern“. „Man muss … beim Bäcker … gewesen sein, bevor die erste Fähre mit den Bustouristen … kommt.“ Im Übrigen laboriert er an der Selbständigkeit seiner Frau Katrin, die wie irgendwelche „Entschleuniger und Runterkommer“ nur noch besuchsweise Inselluft schnuppert.
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So berauschend schließt „Zur See“ zu älteren Bestsellern von Dörte Hansen auf. Siehe „Mittagsstunde“ und „Altes Land“. Die Autorin erzählt von Fressorgien der Nonnengänse auf dem Vorland des Hauptschauplatzes. Ein junger Pottwal verendet am Strand, und wird von den Walfänger-Nachkommen ausgeschlachtet.
Dörte Hansen unterläuft kein maritimer Kitsch.
„Schroff wie ein Riff“ erscheint ihr Ryckmer. Hanseatisch-urbane Oberflächlichkeit geht dem ältesten Sandersohn gegen den Strich. Ryckmar weiß, es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Für einen Inselfriesen (so wie für jede Inselfriesin) heißt das, es gibt kein richtiges Leben auf dem Festland; wo die Leute auch gar nicht richtig frieren können.