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„Mir ist … klar, dass wir nichts über die Menschen wissen, die uns am nächsten stehen.“ Anne Serre
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„Die Räume zwischen den Gedächtnisbildern können nur vermutet werden.“ Britta Boerdner
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„Alle meine Tage sind eine einzige Nacht, wenn ich daran denke.“ Britta Boerdner
Vorgetäuschtes Entgegenkommen
Elena wohnt noch nicht lange an der Hauptstadtmagistrale eines untergegangenen Landes. Der Makler avisierte die ehemalige Stalin-Allee als „Flaniermeile“ der Berliner Gentrifizierungsbourgeoisie in naher Zukunft.
Die Erzählerin entdeckt eine „ereignislose Straße“. Die zur Ohnmachtskulisse heruntergekommene, realsozialistische Triumpharchitektur liefert als Beton-Alp dem DDR-Scheitern ein Nachbild.
Überlebende eines Bürokriegs
Die Tristesse passt zu Elenas Stimmung. Ihr droht ein seelischer Dammbruch als Überlebende eines Bürokriegs, bei dem es einen Toten gab, den Elena besser nicht so gut gekannt hätte. Schuldgefühle rauben ihr den Schlaf. Mit Sprachnachrichten quittierte Anrufannahmeverweigerungen erhöhen den Druck. Jana, die offizielle Freundin von Elenas selbstmörderisch ums Leben gekommenen Liebhaber, verlangt eine Aussprache. Sie erwähnt kompromittierende Mails.
Elena, eine nomadische Konsultantin in ihren Vierzigern, nimmt die unerfreuliche Begegnung in einer Imagination vorweg. Sie stattet Jana aus, „Kleidergröße 34 … figurbetonte Hosenanzüge“, und unterstellt ihr „vorgetäuschtes Entgegenkommen“ als Standardvariante im Wettbewerb.
„Sie war seit ihrer Kindheit daran gewöhnt, dass man ihr zuhört.“
Elena stellt sich Jana als Boxerin vor.
Britta Boerdner, „Es geht um eine Frau“, Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 253 Seiten, 24,-
Im nächsten Durchgang erinnert sie die Zeit mit Janas Exfreund. Vier Monate währte die Affäre mit M. In der Gegenwart des erinnerten Geschehens ist der „extern zugekaufte (in einer „weltweit führenden Unternehmungsberatung“ verankerte) Project Manager“ M. Elena untergeben. M. entspricht den Gepflogenheiten seiner Branche mit wenigen Abweichungen. Er beherrscht die Business-Athletik. Dezent unterscheiden ihn musische Neigungen vom groben Durchschnitt.
M. studierte Musik in Wien. Der Zusammenklang dieser Informationen löst bei der Vorgesetzten ein leises Frohlocken aus. Sie folgt der Spur durch diverse Hotelbetten, bis zur Etablierung des Verhältnisses in ihrem Alltag.
„Niemals nachlassend, so war M. im Hotel.“
Elena vergleicht ihn mit einem „Schwimmer in einer Gegenstromanlage“. Ich deute das als verkappte Selbstanzeige. Die Erzählerin erscheint bizarr isoliert. Sie will niemandem „aus dem Unternehmen begegnen“, in dem ihr M. zugeteilt wurde.
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Unerbittlich besteht Jana auf eine Begegnung, die Elena meint vermeiden zu müssen, um nicht den letzten Halt zu verlieren.
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Britta Boerdner erzählt die Geschichte einer Frau, die lange glaubte, ihr Leben unter den verschärften Bedingungen des eisigsten Wettbewerbs im Griff zu haben. Sie hielt sich für souverän, einmal bezeichnet sie sich als „Kriegerin“. In Wahrheit zahlte Elena unter den Vorzeichen des Neoliberalismus den höchsten Preis für Wohlstand und Status. Sie gab ihre bürgerliche Autonomie auf. Die Unfreiheit reichte so weit, dass ihr ein Vorgesetzter befehlen konnte, die Beziehung zu M. umgehend zu „kappen“.
Von da an laboriert Elena an der aufgedeckten Vulnerabilität. Ihr persönliches Schicksal deckt sich mit einem gesellschaftlichen Befund.
Als Toter rückt M. auf. Die ihm zu Lebzeiten technokratisch verweigerte Nähe stellt sich von selbst ein. Elena kriegt ihre Empfindlichkeit nicht mehr in den Griff.
Aus der Ankündigung
Das einfühlsame Porträt einer Frau im freien Fall, ein Blick in die Abgründe der modernen Arbeits- und Lebenswelt. Ein heißer Sommermorgen in der ›hellen Stadt‹, dem neuen Viertel am Rand der Metropole. Unter dem Weiß der Wolken bilden die Neubauten eine leblose Formation, in Beton gegossene Sehnsucht nach Übersicht und Unverbindlichkeit. Alles ist ruhig, bis eine Voicemail die Stille des Apartments unterbricht: »Ich war seine Freundin. Ich kenne die E-Mails. Rufen Sie zurück, es ist wichtig.« Die kühle Stimme holt das Geschehene zurück: Sie, mit Mitte vierzig fünfzehn Jahre älter als er, ein externer Consultant, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Affäre ohne Verpflichtungen, ohne Konsequenzen bleiben sollte. Alles Private hatte sie zugunsten der Karriere aufgeschoben. Was dann geschah, war nicht vorherzusehen. Britta Boerdners Sprache ist von müheloser, minimalistischer Eleganz, ihre Kunst ist das lautlose Durchbrechen von Oberflächen. In Es geht um eine Frau blickt sie hinter die Fassaden einer Welt, in der Selbstoptimierung und Gewinnmaximie- rung regieren. Sie zeigt ihre Protagonistin ungeschminkt, in all ihrer Härte und Zartheit, Angreifbarkeit und Aggressivität, im Kampf mit den An- und Überforderungen des Lebens.
Zur Autorin
Britta Boerdner, geboren in Fulda, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und Historische Ethnologie. Ihr Debütroman »Was verborgen bleibt« erschien 2012 bei der FVA. Für »Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam« (FVA 2017) erhielt sie das Inselschreiber-Stipendium der Sylt Foundation und das Stipendium des Hessischen Literaturrates in der Emilia Romagna. Britta Boerdner lebt in Frankfurt am Main.