Hitlers Brille
„Die liebliche Bestie Mensch verliert jedes Mal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt: sie wird ernst.“ Friedrich Nietzsche
Thérèse und Laurent sind ein heimliches Liebespaar in einem Dreieck mit Thérèses Ehemann Camille. Eines Tages fahren Laurent, Thérèse und Camille nach Saint-Ouen-sur-Seine, einem ländlichen Industriestandort in der Pariser Agglomeration. Das Trio mietet einen Stechkahn. Auf dem Fluss stößt Thérèses Liebhaber den Gehörnten über Bord, einem Vorsatz entsprechend. Das erzählt Émile Zola in „Thérèse Raquin“. Zolas drittem, erstmals 1867 erschienenen, mit Erzählkonventionen brechenden, als naturalistisch klassifizierten Roman folgte ein gleichnamiges Drama in vier Akten. So erfolgreich war die Bestie-Mensch-Version.
Die Bestie im Menschen - 1890 macht Émile Zola sein Thema mit dem Romantitel „La bête humaine“ sprichwörtlich.
1946 wird Saint-Ouen zum Schauplatz einer dubiosen Begegnung. Die untergetauchte, sich als Französin ausgebende Frau eines hingerichteten KZ-Kommandanten und ihre Tochter Gretel picknicken in der Halbidylle mit der Aussicht auf eine Bootspartie. Sie befinden sich in der Gesellschaft des facettenreichen Rémy Toussaint, von dem sich Gretels Mutter die Konsolidierung ihrer prekären Verhältnisse verspricht. Der Résistance-Held soll aus der faschistischen Witwe eine französische Ehefrau mit Anspruch auf Respektabilität machen.
„Liest du gern, Gretel?“ fragte mich Monsieur Toussaint.
Der Verehrer erwähnt die Koinzidenz zwischen ihrem Aufenthaltsort und dem Romanschauplatz. Toussaint fühlt Gretel auf den Zahn:
„Ein Mädchen in deinem Alter kann doch noch niemandem etwas getan haben. Dein Gewissen ist rein, nehme ich an.“
John Boyne, „Als die Welt zerbrach“, Roman, auf Deutsch von Michael Schickenberg und Nicolai von Schweder-Schreiner, Piper, 409 Seiten, 24,-
Schuld ohne Sühne
Gretel zieht von Paris nach Sydney. Zufällig entdeckt sie den ehemaligen Adjutanten ihres Vaters. Der einstige Oberleutnant Kurt Kotler alias Kurt Kozel mimikrierte als verheirateter Bankangestellter in der australischen Gesellschaft zum Darsteller bürgerlicher Harmlosigkeit. Gretel bemächtigt sich seines Sohnes und erzwingt eine Aussprache. Kotler-Kozel behauptet, Hitlers Brille sei beim Umzug in den „Führerbunker“ auf dem Führerschreibtisch in der Reichskanzlei liegengeblieben. Der Bote Kurt schaffte es nicht mehr bis zum Bunker. In einer australischen Bar zieht er Hitlers Brille aus der Brusttasche.
Jahrzehnte später
Ihren „linken“ Arm würde eine Innenarchitektin dafür geben, in jener Londoner Gegend zu wohnen, in der Gretel seit sechzig Jahren auf hundertvierzig Quadratmeter residiert. Das Apartment in Mayfair gewährt eine Aussicht auf den Hyde Park und entspricht einer oligarchisch dimensionierten Kapitalanlage in der ehemaligen Welthauptstadt. Die neunzigjährige Tochter eines Gehängten trifft die Interieur-Expertin in der leergeräumten Wohnung ihres eben verstorbenen Nachbarn Mr Richardson. Nach dem Tod ihres Mannes, des schönen, mit Clarke Gable verglichenen, und selbst in der intimen Häuslichkeit eines Fernsehabends niemals „leger“ gewordenen Edgar, war Richardson bei dem Versuch gescheitert, Gretel zu verführen. Die Abfuhr nahm der gescheiterte Witwentröster ausdauernd übel. Im Weiteren bildete der konkludente Verkehr den Maßstab für Gretels Idealvorstellung von nachbarschaftlichem Umgang.
Winterville Court lautet die noble Anschrift. Seit Jahrzehnten nutzt die fitte Greisin die Mayfair Library in der South Audley Street. Regelmäßig besucht sie die Nachbarin Heidi Hargrave. Seit dem Verlust ihrer physischen Mobilität baut die Augenärztin im Ruhestand geistig rasant ab.
Gretel ist Mutter des 1961 geborenen Egomanen Caden. Verurteilt von einem polnischen Gericht, starb ihr hochrangiger Nazi-Vater ohne Einsicht in seine Schuld. In langen Rückblenden erinnert sich Boynes zwiespältige Heldin an die Jahre als Untergetauchte in Paris. Da nannte sich die Frau eines Massenmörders Nathalie Guéymard. Mutter und Tochter hausten in einer Absteige. Sie schliefen in einem Bett und rivalisierten auf dem Feld ihrer Wirkung auf Männer.
Nathalie trank sich durch Gossenbars. Ihr früheres, vehement strahlendes, „eine Dame der gehobenen Gesellschaft“ herauskehrendes Selbst hätte die Säuferin verachtet.
„Diese Frauen hätten verschiedener nicht sein können.“
*
„Ich bin nicht dazu erzogen worden, arbeiten zu gehen“, erklärte Nathalie. Sie reagierte auf die (vermeintlichen) Avancen eines Rémy Toussaint, dem sie glaubt ihre biografischen Bären aufbinden zu können.
Vaterhölle
Gretels Jugend stehen im Zeichen von Schuld und Lebensmut. Beinah unbekümmert riskiert die Eskapistin Kopf und Kragen. Gretel unternimmt zwar Ausflüge in den Zynismus, doch bewahrt sie sich den Sinn für die Schönheit des Lautrec'schen Augenblicks. Es wimmelt von impressionistischen Stimmungsaufhellern in ihren Beobachtungen. Das Discount-Lyrische konkurriert mit handfesten Anstrengungen, das Beste aus einer vermaledeiten Lage zu machen.
Diese Vorwärtsspannung charakterisiert dann auch die Altmieterin in Winterville Court. Gretel findet keine Ruhe, bis sie zu wissen glaubt, wer ihre neuen Nachbarn sind. Es handelt sich um Akteure der Filmwelt. Madelyn Darcy-Witt war Schauspielerin, Alex ist Produzent. Das Paar hat einen Sohn. Der neunjährige Henry liebt die „Schatzinsel“, so wie Gretels Bruder, der namenlos erinnert durch die Fortsetzung von „Der Junge im gestreiften Pyjama“ geistert.
Auch Bruno war neun, als er begriff, dass der Arbeitsplatz seines Vaters kein „Bauernhof“ im polnischen „Exil“ war. Auch Schmuel war neun, als er sich im „Lagerhaus“ des Konzentrationslagers versteckte. Gretel begegnete ihm in seinem Unterschlupf. Sie erzählte ihrem Bruder von Schmuel. Sie forderte ihn auf, sich mit Schmuel anzufreunden.
„(Schmuel) kann dir … (eine Häftlingsmontur) besorgen … So fällst du keinem auf. Ich wollte, dass man (Bruno) erwischte. Ich wollte, dass er Ärger bekam.“
Durch ein Loch im Lagerzaun kroch der Sohn des KZ-Kommandanten in jene Hölle, die sein Vater in Gang hielt.
Auch Henry steckt in einer Vaterhölle.
Aus der Ankündigung
Drei Jahre nach dem katastrophalen Ereignis, das ihre Familie zerriss, fliehen eine Mutter und ihre Tochter von Polen nach Paris. Blind vor Sorge und Schuldgefühlen ahnen sie nicht, wie schwer es ist, der Vergangenheit zu entkommen. Fast achtzig Jahre später führt Gretel Fernsby in ihrem Londoner Villenviertel ein ruhiges Leben, Welten entfernt von der traumatischen Kindheit. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, hofft sie, dass die eingespielte Hausgemeinschaft nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Doch der neunjährige Henry weckt Erinnerungen, denen sie sich nicht stellen will. Gretel steht plötzlich vor der Wahl zwischen ihrer eigenen und Henrys Sicherheit. Gewinnt die Verantwortung, oder macht sie sich mitschuldig, wie damals? Wenn sie jetzt eingreift, riskiert sie, Geheimnisse preiszugeben, die sie ein Leben lang gehütet hat … Psychologisch höchstpräzise erzählt John Boyne davon, wie sich eine nicht eingestandene Schuld zu einer zerstörerischen Kraft entwickelt, die mit jedem verstreichenden Lebensjahr schwerer wiegt.
Zum Autor
John Boyne, geboren 1971 in Dublin, ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Autoren Irlands. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“, der weltweit zum Bestseller wurde und von der Kritik als „ein kleines Wunder“ (The Guardian) gefeiert wurde.