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2022-10-31 06:21:47, Jamal

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Pompöser Stümper

„Im wahren Leben schlagen die gutmütigen Giganten viel zu selten zurück.“ John Burnside

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“Robert Falcon Scott had turned Polar exploration into an affair of heroism for heroism’s sake.” Roland Huntford

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„Es ist ein Jammer, aber ich glaube nicht, dass ich weiterschreiben kann.“

Das notierte Robert F. Scott kurz vor seinem Tod am 29. März 1912 auf dem antarktischen Ross-Schelfeis. Der Polarforscher unterlag dem Norweger Roald Amundsen in einem Rennen zum Südpol. In den ersten fünfzig Jahren nach der ‚heroischen Niederlage‘ stilisierte ihn die Nachwelt zum Helden. Dann begann die Deutungsfrostphase.

“The British ideal of plucky defeat”

Nun erkannten Kritiker:innen in Scott den pompösen Stümper. Francis Spufford fand „devastating evidence of bungling“. Paul Theroux bezeichnete Scott als „Mysterium für seine Männer … (als einen) Nichtskönner … Scott was insecure, dark, panicky, humorless, an enigma to his men, unprepared, and a bungler, but in the spirit of a large-scale bungler, always self-dramatizing”.

Pietistische Depression und arktische Abenteuer

John Burnside zitiert aus Expeditionstagebüchern, die zur Empire-Ikonografie im Abendlicht der Sundowner-Melancholie beitrugen, bevor sie dekonstruktivistisch gelesen wurden.

Britannia rule the waves war eine beinah schon ungültige Losung, als sich die Illusion von neuen Spielräumen für den britischen Sportsmann mit arktischen Abenteuern verbanden.

John Burnside, „What light there is - Über die Schönheit des Moments“, Essay, übersetzt von Bernhard Robben, Penguin Verlag, 167 Seiten, 12,-

Am Anfang seines Essays erwähnt der Autor Eroberer des Elisabethanischen Zeitalters, sprich Shakespeares Personal. Burnside verdammt jene christlich auftrumpfenden Usurpatoren, die Schottland „stahlen, alsbald Systeme der Rechtsprechung und brutalen Vergeltung schufen, die dem heidnischen Denken zuwider gewesen sein müssen“.

Die Okkupanten errichteten ein Regime der puritanischen Freudlosigkeit. Sie etablierten „eine lächerliche Vorstellung von Glück“ im Geist eines „unnachgiebigen Calvinismus“.

Wieder und wieder memoriert Burnside seine Biografie, als habe sich die Ontogenese im Takt binnenkolonialer Verheerungen vollzogen.  

„Die ersten vier Jahre führte ich ein privilegiertes, geradezu heidnisches Leben“, schreibt er in „Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You“.

Burnside in der Nussschale: Ursprünglich lief das Schottische seelentopografisch auf „egalitäre, polytheistische Glaubenssysteme“ hinaus. Sein katholisches Gepräge erhielt der schottische Animist in übergriffigen Akten. Man begann als schottischer Heide, der sich selbst genug war, und endete als katholischer Brite in einer pietistischen Depression.   

Zwar vermieden die Stahlarbeiter der Burnside’schen Vätergeneration das Religiöse. Sie blieben stumm in der Messe, sofern sie überhaupt daran teilnahmen. Eine ihren Frauen und Kindern vorbehaltene Praxis, die als Gelegenheit verstanden wurde, sich im „glamourösen Sonntagsstaat komplett (zu) verwandeln“, hintertrieben sie aber nicht. Der Priester erschien gleichermaßen unantastbar und lächerlich. Er war eine „bauchrednerische Schaufensterpuppe“.   

Burnside erkennt in der christlichen „Religion … eine Art Psychose“. Mit dem Begriff vom himmlischen Paradies wurde die irdische Macht zementiert. Wolle man auf die richtige Weise sterben, müsse man zur Ewigkeit Abstand gewinnen.

Der Autor übt sich in der Kunst des Sterbens.

Burnside erzählt, wie er als Heranwachsender in der Kunstbuchabteilung der Stadtbibliothek erwachsenen Reichweiten entkam. Bilder jener Ära prägten die „Geografie seiner Imagination“.

“The brain responds in the same way to imagined experience as it does to real experience.” Maksem Manler, Quelle

„Die weiten Himmel“ der flämischen Landschaftsmalerei eröffneten dem Adoleszenten einen neuen Horizont. In seinen Träumen beobachtete er Szenen niederländischer Provenienz.

Die Mutter hörte Radio, der Vater sah fern. Der Rundfunk war das intensivere Medium. Er beschriftete und illustrierte die Jugend mit gereimten Merksprüchen und Textbotschaften.

Caledonian Antisyzygy und separatistische Inklination

In seinem Essay „Über Nationalismus“ interessiert George Orwell der „keltische Nationalismus“ im Spektrum zwischen walisischen, irischen und schottischen Spielarten wenig. Der Essayist konzentriert sich auf die gemeinsame „anti-englische Stoßrichtung“.

George Orwell, „Über Nationalismus“, aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, dtv, 61 Seiten, 8,-

Orwell assoziiert den „Glauben an eine vergangene und zukünftige Größe der keltischen Völker“ mit Rassismus. Gegenüber Autonomiewünschen zeigt er sich reserviert.

Vermutlich bemerkt jede Lesende die separatistische Inklination des Schotten Burnside, der, ausgehend von dem Wort thrawn, einen oppositionellen Ton anschlägt. Er beruft sich auf keltische Nationalist:innen. Da, wo der Konformitätsdruck einen individuellen Ausdruck zulässt, etabliere sich, so der Autor, ein Thrawn-Regime. Burnside ergänzt die geläufigen Konnotationen von thrawn mit „verdreht, krumm, verzerrt“. Das „Durchgedrehte“ hört er in galizischen Gesängen und im Blues der Bretagne. Er nennt es „rechtschaffende Wildheit“ und vermutet darin einen „typisch keltischen Wesenszug, um den sich das schottischste aller geistigen … Unterfangen rankt, die sogenannte kaledonische Antisyzygy“. 

Karneval auf dem Wasser

Eine Vorliebe für den Winter, für alles Kalte und Weiß, schleicht sich ein. Burnside dient John Evelyn, Autor des ersten Werkes über Luftverschmutzung - “Fumifugium: Or The Inconveniencie of the Aer and Smoak of London Dissipated“, als Zeuge und Gewährsperson jener Londoner Frostperiode anno 1684, bei der das öffentliche Leben auf der vereisten Themse stattfand. Da standen Buden, „in denen Fleisch gebraten wurde“. Eine Druckerpresse wirkte magnetisch auf das Publikum. Man konnte sich seinen Namen und das Datum druckscharf als Souvenir auf Papier mitnehmen.

Ferner amüsierten sich die Eisläufer:innen mit „Stierhatz, Kutschrennen, Puppen- und Theaterspielen“. Das Programm erstreckte sich zwischen Veitstanz und bacchantischem Tumult.    

Bald unterwarf man den „Karneval auf dem Wasser“ administrativen Restriktionen. Burnside exponiert den Mangel an Freizügigkeit, die volkstümlich Bereitschaft, sich herabsetzen zu lassen.

*

In „Über Liebe und Magie - I Put a Spell on You“ erinnert Burnside sich als „entwurzeltes Kind“ unter scharf richtenden Rabauken von „satyrhafter Zudringlichkeit“. Die Henker und ihre Schergen betreiben das Geschäft der Entrechtung mit großer Lust.

Irgendwie kriegt der Autor die Kurve zu Alfred Lord Tennysons lyrischem Land der „Lotosesser“, wo „alle Dinge ruhen und dem Grab entgegenreifen“.   

Tennyson reagierte auf Homers „Odyssee“ dialektisch.

Homer:

„Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet/Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr.“

Tennysons Antwort auf Homer hebt an mit einer Landung. 

In the afternoon they came unto a land/In which it seemed always afternoon. 

Die Zeile verwirft bereits das Projekt der Zuflucht. Kein auf Dauer gnädiger Naturzustand befördert die Zivilisation. Ein Wüten dagegen setzt auf einem überragenden Reflexionsplateau sofort ein. Kapitän Odysseus verdonnert am Ende die Mannschaft:

„Warf sie unter die Bänke der Schiff(e), und band sie mit Seilen.“

Burnside baut den Kolossalprospekt auf, um einen Prototyp des Lotosessers aka traurigen Tropfs seiner Jugend, einen Klassenkameraden namens John Mason, von der finalen Niedertracht eines „rücksichtsvollen Attentäters“ begnadigen zu lassen. In der Formulierung verbiegt sich die Grammatik zur Wahrheit. Burnside begrüßt Masons Ausschluss als Notwendigkeit.

Ist Paul ein Opfer, das der robusten Gemeinschaft gebracht werden muss, um sie lebensfähig zu halten? Burnside bietet der Interpretation ein Forum. Er schildert ein weibliches Pendant zu Paul. Er beschreibt Menschen, die mit allgemeiner Zustimmung von Einzelnen drangsaliert werden.

Burnside beschwört eine archaische Ordnung herauf, in der jede Generation einen Gesellschaftspakt schließt, der auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene bestätigt wird. Der Verhandlungsstil ist hart.

In „What light there is - Über die Schönheit des Moments“ steuert Burnside den Punkt auf einer anderen Erzählstrecke an. Er analysiert den poetischen und prosaischen Niederschlag vermeintlich paradoxer Gewalt. Er spricht von den „Anforderungen (eines) Narratives, das … keine Personen respektiert. Es gibt (die Protagonisten) nur, damit sie ein existenzielles Drama verkörpern, nicht, damit man in ihnen einzigartige … Individuen sieht“.

Burnside zitiert die Mordballade vom „Knoxville Girl“. Dazu bald mehr.   

Aus der Ankündigung

»Das Altern ist der langsamste Prozess, den der Mensch kennt - und doch, wie plötzlich ist mein Leib alt geworden.«

Früh Erlebtes und Gefühltes beschwörend, macht uns John Burnside die Magie der Vergänglichkeit begreifbar. Entlang persönlicher Lektüren, Erfahrungen mit Film, Musik und bildender Kunst, entwirft er, angefangen mit seiner Kindheit in einer sterbenden Bergarbeiterstadt, eine Geografie seiner Imagination. Oszillierend zwischen Helligkeit und Schwärze, voller Wissen um Abgründe, aber auch um eine lichte Gegenwärtigkeit.

Ars moriendi - das Sterben als Kunstform - wurde selten so aktuell, politisch und sinnlich interpretiert wie hier von einem der bedeutendsten Schriftsteller der europäischen Gegenwartsliteratur. Eine beglückende und bittersüße Verneigung vor dem Zauber des Moments im Augenblick seines Erlöschens. Ein sprachgewaltiges Fest.
»In diesem Licht wird Burnsides eigenes Werk neu lesbar: als Schreiben auf der Suche nach einem Himmel auf Erden …« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Platthaus

Zum Autor

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Zuletzt schrieb er mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie – I put a spell on you« (2014) und »What light there is – Über die Schönheit des Moments« (2020) mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden.