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2022-11-03 06:39:28, Jamal

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Schwarzer Limes

Im frühen 19. Jahrhundert bezeichnet Linden Hills einen so kargen Flecken in Wayne County, Michigan, dass sich ihm kein landwirtschaftlicher Ertrag abringen lässt. 1820 erwirbt ein Schwarzer aus Tupelo, Mississippi, die Öde. Luther Nedeeds unternimmt keinen Versuch einer Kultivierung des Bodens. Er setzt eine Hütte in den Sand. In deren Schatten meditiert Luther sieben Tage. In seiner Versunkenheit erinnert er Nachbarn an eine „ägyptische Mumie“. Am achten Tag kauft er das Nötige und eröffnet ein Bestattungsunternehmen.

Luther profitiert davon, dass sich „im Norden, anders als im Süden, (niemand) … darum (schert), wenn Schwarze und Weiße zusammen beerdigt (werden), solange sie nicht zusammen (leben)“.

Auf seinem Grund tritt er als Bauherr auf, wenn auch nur in dem bescheidenen Rahmen einer Hüttenkolonie für das Schwarze Prekariat in der Gegend. Er macht etwas aus Putney Waynes „ehemaligem Weideland“. Er tritt den Pfad, der einmal zur Magistrale (Wayne Avenue) werden wird.

Gloria Naylor, „Linden Hills“, Roman, aus dem Englischen von Angelika Kaps, Unionsverlag, 393 Seiten, 26,- 

1837 heiratet Luther, ein Jahr später wird er Vater des nächsten Luther. Eine Bestatter-Dynastie zeichnet sich am Zukunftshorizont ab. Der erste Luther liefert die Blaupause für seine Nachkommen. Das sind ohne Ausnahme kleine, gedrungene Einzelkinder, deren Physionomien zu Vergleichen mit Fröschen anregen. Sie expandieren im Takt der Industrialisierung, bis ein Luther Nedeeds weit und breit der reichste Mann ist. Er übt Zurückhaltung, nimmt Rücksicht auf weißen Dünkel und baut subversiv seine lokale Vormachtstellung aus. Als ein Luther in der Ära der großen Depression „Amerikas Nervenzusammenbruch beobachtet“, begreift er die Religion seines Landes. Der Erfolg (in weißen Großbuchstaben) ist den Vereinigten Staaten heilig. Der amtierende Luther strebt danach, Linden Hills in einen „Schaukasten“ zu verwandeln, in ein „Ebenholz-Juwel“. Er will einen leuchtend schwarzen Stachel dem weißen Fleisch einpflanzen.

„Linden Hills“ erschien erstmals 1985. Die Romanarchitektur ist mit allegorischen Szenen aus Dantes Inferno ausgemalt. Das Geschehen dehnt sich bis ins ausgehende 20. Jahrhundert. Seine stärksten Impulse bezieht es aus dem transgenerationalen Wunsch, eine schwarze Wohlstandsexklave zu schaffen, bewehrt von einem schwarzen Limes. Die Herren von Linden Hills unterlaufen nie die Segregationsnormen des US-Nordens. Stattdessen bauen sie unüberwindbare Hürden zur Abwehr jedweden weißen Zugriffs. Sie schaffen einen exklusiven Raum nur für Schwarze.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts werden Nachkommen der ersten Nutznießer:innen des Nedeed’schen sozialreformerisch eingekleideten Antizipationsvermögens zu Gegner:innen der Visionäre. Eine Galionsfigur des Schwarzen Widerstands gegen Schwarze Verbürgerlichungspolitik ist Grandma Tilson. Sie will in ihren ursprünglichen Verhältnissen vergreisen. Den Statusstil der Schwarzen Bourgeoisie lehnt sie ab. Doch hält auch Mamie Tilson nicht auf, was der weißen Nachbarschaft sauer aufstößt. Marmorne Pools in japanischen Gärten, die von Schwarzen Villenbewohner:innen belebt werden, garantieren ein weltweites Interesse an Linden Hills.

Der jeweilige Luther thront als Klassenprimus über seinem eigenen See, in der nach dem Tupelo Drive benannten „Tupelo Zone“. Da liegen die Filetstücke der A-Lage. Dies geschieht in einer Gegend, in der ein Schwarzer (in einem aufgeschlossenen Nordstaat) nur deshalb Grundstückseigner geworden war, weil der Vorbesitzer, ein Knochen namens Patterson, geglaubt hatte, einem Tölpel aus dem Süden ein Stück Wüste angedreht zu haben.

Protagonisten des Patterson-Clans treten als hinterherhinkende Gegenspieler:innen auf. Sie erleben sich als Opfer schwarzer Vorausschau und eines Entrepreneur-Mutes, der nicht nur im Landkreis einmalig ist. Sie haben recht.

Den Luther Nedeeds sämtlicher Generationen seit Anbeginn ihrer Herrschaft über Linden Hills geht es darum, „eine Welt zu peinigen, die es gewagt hatte, sie für dumm (und vollkommen unfähig) zu halten“.  

Endlich erkennt ein Luther den Denkfehler seiner Ahnen. Sie hielten Besitz für den Schlüssel.

„Linden Hills war nicht schwarz; es war erfolgreich.“

In der fünften Generation funktioniert der Schauplatz Schwarzes Stolzes als Durchlauferhitzer. Eine Schwadron ehrgeiziger Schwarzer nach der nächsten arbeitet sich von den hanghohen Randlagen bis zu den Häusern im Dunstkreis der Residenz vor. Der Aufstieg, räumlich ein Abstieg, lässt die Akteure ausbrennen. Sobald sie ihre Immobilie am besten Platz haben, bieten sie das Objekt ihrer verbrauchten Begierde zum Verkauf an.

Aus der Ankündigung

Linden Hills – wer hier lebt, hat es geschafft. Elegante Häuser und perfekt gepflegte Rasen säumen die acht Ringstraßen, die sich den Hügel hinabwinden. Lester und sein bester Kumpel Willie, beide verflucht knapp bei Kasse, verabscheuen die noble Klientel, reinigen aber für ein paar Dollar ihre Auffahrten und Pools.  Vorbei an glänzenden Fassaden und übertünchten Rissen arbeiten sie sich Straße für Straße den Hügel hinunter. Bis ganz nach unten, wo Luther Nedeed, das Epizentrum der Macht, ein finsteres Geheimnis hütet.  Gloria Naylor enthüllt, wie die Menschen für den American Dream mit ihrer Seele bezahlen und wie das funkelnde Versprechen eines besseren Lebens in schneidende Niedertracht zersplittert.