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„Wir (müssen) unsere Emotionen auf äußere Formen … richten … damit unsere Gefühle sich nicht aufbäumen und alles zerstören.“
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„Wo ist die Zeit hin … Es kommt mir so vor, als wären wir erst gestern wie die Wilden durch London gerannt.“ Danielle McLaughlin
Rettende Einsicht
Wenn sie es einrichten kann, erledigt Nessa McCormack Wochenendeinkäufe „diskret in einem Aldi“ fern ihrer privaten Umgebung in Cork. Sie und ihr fremdgehender Mann Philip sind - wegen geplatzter Immobiliengeschäften - mit einer Million Euro in den Miesen. Die Schulden lasten als Hypothek auf ihrem Haus. Philips Mutter hatte im Jahr vor ihrem Tod die letzte ursprüngliche Hypothek getilgt. Das ansehnliche Erbe passte zum Aufstieg im boomenden Irland. Inzwischen herrscht an allen Ecken und Enden Katerstimmung. Ein ausgeknockter Mittelstand fröstelt auf der neoliberalistischen Schattenseite. Dazu kommt, dass Philip, ein beinah arbeitsloser Architekt und Home Officer, das Büro war das „gute Zimmer“ seiner Mutter, als temporärer Backdoor Man der Mutter einer Freundin seiner Tochter Jennifer, einer Nachbarin namens Cora Wilson, das Gefüge von zwei Familien bis auf den Grund erschütterte; dies ohne besonderes Unrechtsbewusstsein oder sonst einer rettenden Einsicht.
Danielle McLaughlin, „Die Kunst des Fallens“, Roman, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand, 363 Seiten, 22,-
Die Kunsthistorikerin Nessa kuratiert das Werk des Bildhauers Robert Locke, in enger Abstimmung mit Lockes Witwe Eleanor und deren Tochter Loretta. Nessa reagiert auf das Künstlerehepaar so stark, dass sie Locke beim ehelichen Sex an die Stelle von Philip rückt, und sich als Eleanor imaginiert. Eleanor entstammt einer Dynastie von Silberschmieden, die in den 1930er Jahren aus der - ein Erzzeitalter benennenden - Grafschaft Devon nach London zogen und da ein einträgliches Geschäft aufzogen.
Lockes „herrlichen Hände erschaffen“ Nessa wie eine Skulptur.
Sie brilliert als Kennerin von Lockes Werk und Wahn.
Nessa residiert am Lavitt‘s Quay im Zentrum von Cork mit einer Aussicht auf den River Lee, der unweit in die Keltische See fließt. An einem äußersten Punkt des Blickfeldes schimmert die Glasfront des Opernhauses.
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Nessas Leiche im Keller ist ihre beste Freundin Amy, die sich umbrachte, nachdem Nessa eine Affäre mit Amys Ehemann Stuart hatte. Luke, Amys und Stuarts Sohn, taucht auf; Nessa fürchtet, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es kommt dann noch viel schlimmer als befürchtet.
Gleichzeitig behelligt Nessa eine Person, die behauptet, mit Locke künstlerisch kollaboriert, ihn inspiriert und ihm Modell gestanden zu haben. Die aus Rijeka in Kroatien gebürtige Melanie Petrovic alias Doerr suggeriert bei jeder Gelegenheit, eine gediegene Personalie in Lockes Biografie zu sein. Tatsächlich geben die Archive nichts her über sie. Trotzdem ist Melanie erstaunlich gut im Bilde.
Sie informiert Nessa über die näheren Umstände der Zusammenarbeit mit Locke. Sie sei ihm zuerst als Putzfrau und Köchin in einer Künstler:innenkolonie auf der Halbinsel Inishowen begegnet. Locke habe sie 1973 in seine häuslichen Arbeits- und Lebensvorgänge integriert. Gemeinsam erschufen sie die Skulptur einer gesichtslos Schwangeren, die nach Lockes Willen ihr allein gehöre, wenn auch auf absurde Weise.
Die Alabastergipsplastik sollte nämlich den „Vorgang permanenten Schwindens“ dokumentieren. Es ging um den Prozess der Auflösung. Melanie führt das leicht vergängliche Material als Beleg an.
Das ist ungeheuer weit weg von Melanies zur Lehrmeinung vorbestimmten Vorstellungen. Die „Venus“ steht mit einer völlig anderen Legende im Zentrum einer postumen Würdigungskampagne, deren treibende Kraft und kompetenteste Expertin Nessa zu sein begehrt. In der von Eleanor diktierten Lesart diente eine Aufnahme der hochschwangeren Ehefrau vor dem Hotel Negresco in Nizza dem Werk als Vorlage.
Während ein Fuß detailreich ausgearbeitet ist, erscheint der Kopf lediglich als Block. Folglich lässt sich kein physiognomischer Beweis erbringen.
Die Figur wurde bereits als Fruchtbarkeitssymbol und pseudoarchaischer Anbetungsgegenstand missverstanden. Eine Weile stand sie in einem Kuhstall. Dazu bald mehr.
Aus der Ankündigung
Eine Frau in der Krise – die irische Autorin erzählt vom ganz normalen Leben, von den kleinen Dramen, die große Wirkung haben, von verletzten Gefühlen, versteckten Lügen, unerfüllten Sehnsüchten. Und wie leicht ein Leben aus den Fugen geraten kann, auch wenn man glaubt, alles ganz gut unter Kontrolle zu haben. Nessa McCormack will nach einer Affäre ihres Mannes ihre Ehe retten, ihre Tochter ist im kompliziertesten Teenageralter, und sie steht am Höhepunkt ihrer Karriere: Sie kuratiert eine Ausstellung über den kürzlich verstorbenen Robert Locke, einen Bildhauer, den sie noch persönlich kannte und verehrte. Doch plötzlich taucht eine Frau auf, die hartnäckig behauptet, die wahre Schöpferin von Robert Lockes berühmtester Skulptur zu sein. Und dann droht auch noch eine längst verdrängte Lüge aus Nessas Vergangenheit ans Licht zu kommen …
Zur Autorin
Danielle McLaughlin hat als Rechtsanwältin praktiziert, bevor sie mit 40 Jahren zu schreiben begann. Ihre Geschichten wurden in The New Yorker, The Irish Times, The Stinging Fly und verschiedenen Anthologien veröffentlicht, sie gewann u.a. die William Trevor/Elizabeth Bowen International Short Story Competition und den Willesden Herald International Short Story Prize. Ihr Erzählungsband »Dinosaurier auf anderen Planeten« kam 2015 auf die Shortlist der Irish Book Awards Newcomer of the Year und wurde 2019 mit einem der höchstdotierten literarischen Preise weltweit ausgezeichnet, dem Windham-Campbell Prize. »Die Kunst des Fallens« kam 2022 auf die Shortlist des Dublin Literary Award. Danielle McLaughlin lebt im County Cork, Irland.