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„Herz der Finsternis“ auf Amerikanisch
Angeregt von Ralph W. Emersons Naturbetrachtungen, bricht Will Andrews sein Studium in Harvard ab. Auf der Suche nach einer „ursprünglichen Beziehung zur Natur“ erreicht der Sohn eines Predigers einen Vorposten der blutig-weißen Zivilisation in Kansas. Das Bretterbudenensemble Butcher’s Crossing entstand als Bisonjägerlager. In der Handlungsgegenwart von 1870 gibt es da immer noch nicht mehr als Bordell, Boardinghouse, Mietstall und Saloon. Dem Frontier-Genre haftet bereits ein nostalgischer Gloom an. Vorbei sind die Zeiten, als das massenhafte Erscheinen der Büffel die Prärie verdunkelte, den Boden beben und die Herzen höher schlagen ließ. Wenn auch noch nicht lange. Veteranen verbinden ihre lebhaftesten Erinnerungen mit den atavistisch-phantasmagorischen Stampeden der lebenden Fossilien. Sie memorieren Nachtfahrten durch Knochenfelder und apokalyptischen Kadaverkolonien. Ihre Beschwörungen kreisen um Steppenschlachtfeste.
John Williams, „Butcher‘s Crossing“, Roman, auf Deutsch von Bernhard Robben, dtv, 10.90 ,-
Andrews betritt die Bühne des Wilden Westens mit den Erwartungen eines Romantikers. Ein Entlaufener gesellt sich zu Versprengten. Er schlägt Warnungen in den Wind, als er eine Jagdexpedition finanziert. Er stattet Männer aus, die ohne den Schwärmer nie wieder legal zu einem Sattel gekommen wären.
John Williams veröffentlichte den Roman erstmals 1960. Zweifellos nahm er Maß an dem zivilisationskritischen Raunen in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Conrads Held sieht „das Grauen“. Das wird dann auch zu Andrews Kernerfahrung. Das konzentrierte Töten tötet etwas in ihm. Gleichzeitig findet er in der Mordmonotonie seine Ruhe.
Vor dreißig Jahren hätte ich die Geschichte als Initiation gelesen, als gelungener Versuch, der US-Pionier:innengesellschaft gerecht zu werden. Der Autor räumt seinem Helden keine Chance auf Katharsis in einem arkadischen Amerika ein. Dabei verzichtet Williams nicht auf lockende Schilderungen einer überwältigenden Natur.
Er zeichnet den aufreibenden Weg einer Desperado-Gemeinschaft nach. Die Marschstrapaze endet vorläufig in einem Tal am Fuß eines selbst im Sommer kaum begehbaren, im Winter vom Schnee verriegelten Passes.
Andrews Entwicklung vom Studienabbrecher zum Büffelkiller strotzt vor Plausibilität. Die Sidekicks können in jedem Western mitspielen. Miller, der Jagdführer, geht seinem Geschäft mit beträchtlichem Funktionsstolz nach. Er weiß alles über Büffel, und so auch, wie man sie seriell tötet, ohne Panik in der Herde auszulösen. Sein Faktotum, ein bibelfester Säufer und einarmiger Bandit namens Charley Hoge, steht in Treue fest zum großen Jäger, der auch in einem Hemingway-Roman oder bei Cormac McCarthy aufkreuzen könnte. Als räudiger Häuter und versierter Außenseiter erscheint Fred Schneider. Der Buffalo Skinner betrachtet Miller mit einer Skepsis, die Andrews versponnener Wahrnehmung zuwiderläuft. Schneider erkennt das Manische. Er benennt Millers Pathologie. Seinem Scharfsinn stehen die Verhältnisse im Camp entgegen. Millers wahnhafte Entschlossenheit, eine mehrtausendköpfige Herde kurz vor Wintereinbruch im Alleingang zu vernichten, erledigt jeden Einwand.
Der Roman spekuliert schließlich auf die Prisen einer grauenhaften Vergeblichkeit. Während die Schlächter mit hohen Gewinnerwartungen ein Paradies verwüsten, fallen die Preise für Büffelfelle.
Aus der Ankündigung
Es ist um 1870, als Will Andrews der Aussicht auf eine glänzende Karriere und Harvard den Rücken kehrt. Beflügelt von der Naturauffassung Ralph W. Emersons, sucht er im Westen nach einer »ursprünglichen Beziehung zur Natur«.
In Butcher’s Crossing, einem kleinen entlegenen Städtchen in Kansas, wimmelt es von rastlosen Männern, die das Abenteuer suchen und schnell verdientes Geld ebenso schnell wieder vergeuden. Einer von ihnen lockt Andrews mit Geschichten von riesigen Büffelherden, die, versteckt in einem entlegenen Tal tief in den Colorado Rockies, nur eingefangen werden müssten: Andrews schließt sich einer Expedition an, mit dem Ziel, die Tiere aufzuspüren. Die Reise ist aufreibend und strapaziös, aber am Ende erreichen die Männer einen Ort von paradiesischer Schönheit. Doch statt von Ehrfurcht werden sie von Gier ergriffen – und entfesseln eine Tragödie.
Ein Roman darüber, wie man im Leben verliert und was man dadurch gewinnen kann.
Zum Autor
John Edward Williams (1922 -1994) wuchs im Nordosten von Texas auf. Er besuchte das örtliche College und arbeitete dann als Journalist. 1942 meldete er sich widerstrebend, jedoch als Freiwilliger zu den United States Army Air Forces und schrieb in der Zeit seines Einsatzes in Burma seinen ersten Roman. Nach dem Krieg ging er nach Denver, 1950 Masterabschluss des Studiums Englische Literatur. Er erhielt zunächst einen Lehrauftrag an der Universität Missouri. 1954 kehrte er zurück an die Universität Denver, wo er bis zu seiner Emeritierung Creative Writing und Englische Literatur lehrte.
Williams war vier Mal verheiratet und Vater von drei Kindern. Er verfasste fünf Romane (der letzte blieb unvollendet) und Poesie. John Williams wurde zu Lebzeiten zwar gelesen, erlangte aber keine Berühmtheit. Dank seiner Wiederentdeckung durch Edwin Frank, der 1999 die legendäre Reihe ›New York Book Review Classics‹ begründete, zählt er heute weltweit zu den Ikonen der klassischen amerikanischen Moderne.