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Stummgeschaltete Erinnerungen
„Die Erinnerungen (an Grace) sind nie vollkommen verblasst, aber es gelang mir … sie stumm zu schalten.“
In Rückblenden memoriert die Erzählerin Eve glückliche Momente aus einem Fundus unwiederbringlicher Gemeinsamkeit. Grace, Tochter pädagogisch versierter Eltern, tauchte aus einer unbeschwert-ländlichen Kindheit im London auf. Die Freundinnen inspizierten die Vergnügungsfront. Sie teilten Rausch und Katzenjammer.
Abschüssiger Lebenslauf
Aufgewachsen im viktorianischen Fluidum am/in Finsbury Park, bezog Eve ihre erste Erwachsenenbleibe im Borough of Lambeth, dem Londoner Zentrum der portugiesischen Diaspora. Die Tochter eines alleinerziehenden, alkoholkranken, sprich emotional unzuverlässigen Vaters ist die Dritte in einem Bund, der mit wechselnden Akteuren experimentiert. Den Konstellationskern bilden Karina, eine hagere, kälteresistente Norwegerin, und ihr Freund. Bill orientiert sich an Selbstoptimierungsratgebern. Er fängt gern Debatten an, wenn Eve auf dem Weg zum Bad „im Handtuch“ aufkreuzt. Vertrauensselig und sozial engagiert haust das Paar mit seiner Wohngenossin im Chaos.
Chloë Ashby, „Das Leben in Nuancen“, Roman, auf Deutsch von Kerstin Winter, Diana Verlag, 383 Seiten, 22,-
Die Autorin nennt die Adresse. Die sanierungsbedürftige Wohnmaschine Princes Court ist ein Kulissenelement vor dem Harrods in der Brompton Road. Bis zum Hyde Park sind es siebzehn Minuten zu Fuß.
Eve besucht jede Woche einmal die Courtauld Gallery im Somerset House an der Themse. Da nimmt sie eine „alte Freundin, Manets Bardame“ gründlich in Augenschein. „Un bar aux Folies Bergère“ entstand kurz vor dem Tod des Künstlers 1883 als früher Meilenstein des Impressionismus. Das Gemälde kursiert auch unter dem Titel „Suzon an der Bar der Folies Bergère“.
Auch Eve verdient ihr Geld in der Gastronomie. Noch jobbt sie im Restaurant von Laurence Martins, „der bis zum Stumpfsinn in seiner Arbeit aufgeht“. Ein Stammgast vergreift sich. Eve verpasst ihm eine Ordnungsschelle und schließt so ein Jobkapitel.
Aus dem Pressetext: „Chloë Ashby trifft den Nerv ihrer Generation. (Ihre Heldin) ist Mitte zwanzig und schlägt sich in London … durch. Seit dem Tod ihrer besten Freundin Grace hält Eve alles und jeden auf Distanz. Ihr Leben entgleitet ihr immer mehr. Sie wird gefeuert, aus ihrer Wohnung geworfen und riskiert …“
Im nächsten Durchgang steht sie Kunststudierenden Modell. Das ist anstrengender als erwartet. Eve ermüdet in den Positionen. Die Resultate erscheinen ihr kaum je schmeichelhaft.
„In den Zeichnungen der Kursteilnehmer … (erkennt sie sich) nicht wieder.“
An Tagen der offenen Tür verwandelt sich die Aktklasse in eine Peepshow.
Eve absolviert den Parcours der Prekären unter Dreißig in einer extrem teuren Stadt. Einmal blecht sie neunzehn Pfund für eine Kino-Matinee.
Noch gibt es ein freundliches Interesse an den Abstiegsdetails. Da ist Max, der schon viele Jahre hilfreich wirkt. Er verschafft der klammen Freundin einen Job. Gemeinsam kellnern Eve und Max in einer Bar für Besserverdienende. Die Distanz schwindet, bis sie auch zusammen im Bett landen.
Eve zieht bei Max ein.
„Das ist kein Pärchen-Ding. Er kommt mir eher vor wie mein Bewährungshelfer.“
Chloë Ashby schildert einen unspektakulär-abschüssigen Lebenslauf. Die Verluste ihrer Heldin bilden eine Spur, die zunehmend breiter wird. Eve überspielt das Offensichtliche. Sie tendiert zu Notlösungen, die soeben noch als postadoleszente Provisorien durchgehen. Außerdem lässt sie Dinge mitgehen. Sie vergreift sich beiläufig, aber wohl doch zwanghaft an Intimgegenständen wie Bademänteln und Tagebüchern von Personen, mit denen sie ein Vertrauensverhältnis verbindet.
Ihre Schöpferin macht keine große Sache aus den kleinen Diebstählen. Eve selbst scheint den Überschreitungscharakter und die Delikthaftigkeit ihres Verhaltens nicht zu bemerken. Somnambul schlittert sie von Desaster zu Desaster.
Zur Autorin
Chloë Ashby ist Autorin und Journalistin. Sie schreibt für Zeitungen und Magazine (u.a. The Guardian) und interviewte zahlreiche Persönlichkeiten der Kunstszene wie Damien Hirst, Ottessa Moshfegh und Christian Louboutin. Das »Leben in Nuancen« ist ihr Debütroman.