MenuMENU

zurück

2022-11-22 12:47:11, Jamal

Sehen Sie auch hier

La Fornarina is the closest thing to soft porn in the high Renaissance.” Leo Steinberg, Quelle

*

„Die Liebe und die Götter lassen sich nicht täuschen.“ Martina Clavadetscher

Das Schussfeld als Drehort

Jacob Burckhardt hielt die Porträtmalerei zu seiner Zeit bereits für ein abgeschlossenes Kapitel der Kunstgeschichte. Der industriellen Beschleunigung entsprach das mechanische Verfahren. Ich schweife ab. Der Fotografie Beine machten waffentechnologischen Anleihen. Dem astronomischen Revolver folgte die photographische Flinte. Beide Maschinen dienten der militärischen Aufklärung. 

Jules Janssen erfand den Okular-Colt, sich konkret auf Samuel C. beziehend. Etienne-Jules Marey legte mit dem chrono-fotografischen Gewehr nach. In den 1960er Jahren experimentierte man in der Sowjetunion mit einem Foto-Sniper. Zur gleichen Zeit lieferten unbemannte, über Laos zirkulierende Kleinflugzeuge Informationen, die in IBM-Agenturen ausgewertet wurden.

„Direkte Sicht war nicht mehr erforderlich“, bilanziert Paul Virilio in „Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung“.

„Das Schussfeld hatte sich in einen Drehort verwandelt.“ 

Das Arrondissement einer Person

Zurück zu Martina Clavadetschers poetischen Unterstellungen „Vor aller Augen“.

Martina Clavadetscher, „Vor aller Augen“, Unionsverlag, 234 Seiten, 24,-

In neunzehn Miniaturen unternehmen Protagonistinnen des kollektiven Universalgedächtnisses introspektive Ausflüge. Gestern sprachen wir über Leonardo da Vincis 1489/90 geschaffenes Gemälde „Dame mit dem Hermelin“. Es zeigt eine Mätresse des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza (1452 -1508), der selbst als „weißes Hermelin“ in die Geschichte einging. Die Porträtierte, Cecilia Gallerani (1473 - 1536), war eine zunächst am Hof ihres Geliebten geschätzte, dann aber von Sforzas Gattin verdrängte Poetin. Das Bild suggeriert eine intakte Verbindung von Schönheit und Macht.

Bankier des Papstes

Nun zu „La Fornarina“, einem 1518/19 entstandenen Meisterwerk der Hochrenaissance. La Fornarin - die kleine Bäckerin. Der Name der barbusig Dargestellten wurde Jahrhunderte als Marginale gehandelt. Man identifizierte die Porträtierte als Tochter eines Bäckers; geboren um 1490 in Siena. Margherita Luti war die als Hausgenossin akkreditierte Geliebte des schon zu Lebzeiten den Unsterblichen zugeordneten, vom Papst begünstigten, ewig mit der Kardinalstochter Maria da Bibbiena verlobten, offiziell nie verheirateten Raffaello Sanzio da Urbino. Raffael vollendete das Bild in seinem letzten Lebensjahr. Vereinzelt behauptet wird, die Porträtierte sei nicht Margherita, sondern Francesca Chigi, die 1518 zur Gattin aufgestiegene, langjährige Geliebte des toskanischen Magnaten Agostino Chigi. Francesca hatte mit dem Bankier des Papstes fünf Kinder. 

Agostino ließ in Trastevere einen Palast errichten, der als Villa Farnesina (nach dem späteren Besitzer Alessandro Farnese) zu einer römischen Sehenswürdigkeit wurde. Raffael übernahm Ausgestaltungsaufgaben. Agostino starb kurz nach der Hochzeit mit Francesca, nur vier Tage nach Raffaels überstürztem Ableben.

Clavadetscher bleibt bei der traditionellen Deutung. Ihre Margherita verweist auf (vermutlich von Raffaels Schüler und Werkstatt-Nachfolger Giulio Romano) übermalte Zeichen einer heimlichen Ehe mit dem Genie. 2001 entdeckten Wissenschafter:innen bei einer Röntgenanalyse einen retuschierten als (Ehebeweis bewerteten) Rubinring und weitere in postumer Verdunklung untergegangenen Liebessymbole. Hinzu kommt der deutlich sichtbare, mit dem Künstlernamen signierte Armreif.

Eine legitime Verbindung mit Margherita wäre für den Superstar nicht ohne massive soziale Nachteile zu haben gewesen. Nach Margheritas eigener Angabe (in der Fiktion) wähnte sich Raffael von ihr erleuchtet. Agostino brachte sie in Raffaels bequemster Reichweite unter, um den Künstler an seinem Arbeitsplatz zu halten.   

Gemalte Minne/Vagierende Sprachbilder - Noch eine Abschweifung

Sigmund Freud erwähnt „vagierende Sprachbilder … die nicht zum Gesprochenwerden bestimmt sind“. Sie lungern auf Bewusstseinsschwellen und offenbaren sich im Versprechen. Mit Freud berühmt wurde Vorschwein anstelle des Vorscheins. Schön finde ich draut als Vermengung von dauern und traurig. Draut beklagt einen anhaltend-traurigen Zustand. Lange vor der Prägung psychoanalytischer Begriffe erfasste die Renaissancemalerei schlagartig seelische Valeurs, die in den Jahrhunderten zuvor lediglich poetisch begriffen worden waren. Vielleicht korrespondiert Margheritas auf den Künstler (wohl eher als auf eine Betrachterin) reagierende Zugewandtheit mit der Erwartung, in einem Akt gemalter Minne geadelt zu werden. Immerhin geriet sie so in einen Aufmerksamkeitswettbewerb mit den prominentesten Persönlichkeiten ihrer Zeit.   

Ikonografie der Neuzeit

„Sehen kommt vor Sprechen.“ John Berger

*

„Rubens hätte sein Lebtag lauter Bilder in der Art des Liebesgartens … malen und seine Zeitgenossen damit vor Entzücken töricht machen können.“ Jacob Burckhardt

Für griechische Denkerinnen und Denker war die bildende Kunst Banausenwerk. Es ergab sich eine Feindschaft, insofern die Kunst den Mythos verherrlichte und die Philosophie das „griechische Bewusstsein“ vom Mythos frei wissen wollte. Bild und Statue dienten Kulten. Plato verlangte eine gesetzliche Regelung des Privatbesitzes von Devotionalien.

„Keiner (sollte) Heiligtümer in seinem Haus haben.“

Zitiert nach Jacob Burckhardt.

In der Renaissance erwachte das künstlerische Selbstbewusstsein auf eine nachwirkende Weise. Wir betrachten die Kunstgeschichte als Galerie epochemachender Künstlerinnen und Künstler. Zwar sind es Modelle, die das kollektive Gedächtnis bebildern. Doch die Wertmarken ergeben sich aus den Namen der Malerinnen und Maler. Martina Clavadetscher verändert die Perspektive. In neunzehn poetischen Akten richtet sie unsere Aufmerksamkeit auf die Dargestellten.

Martina Clavadetscher, „Vor aller Augen“, Unionsverlag, 234 Seiten, 24,-

1464 stiftete König Ferdinand von Neapel den Hermelinorden als ritterliche Auszeichnung in Nachahmung eines französischen Vorbildes. Siehe Ordre de l‘hermine. Mit dem Wappentier assoziierte die Renaissance Reinheit, Fruchtbarkeit und Kampfgeist. Die Devise „Malo mori quam foedari - Lieber sterben als (dem Sinn nach) verunstaltet leben“ folgt einer Nobilitierung des Wiesels zur Edelkreatur. So kursierte der von Ferdinand mit dem Hermelinorden geehrte Mailänder Herzog Ludovico Sforza (1452 -1508) als „weißes Hermelin“. Darauf verweist das titelgebende Hermelin in einem von Leonardo da Vinci 1489/90 geschaffenen Gemälde. Im Zentrum steht Cecilia Gallerani (1473 - 1536). Die Mätresse des Mächtigsten zählte zu den gebildeten Erscheinungen am Mailänder Hof. Da Vinci porträtierte die schwangere Poetin. Cecilia gebar den illegitimen Fürstenspross, als sich Ludovico standesgemäß mit Beatrice d‘Este verheiratete. Die Braut erzwang die Distanzierung ihres Mannes von der Geliebten. Cecilia musste mit dem kleinen Caesar den engsten Kreis der Herrschaft verlassen. Man verpasste ihr Lodovico Carminati de‘ Brambilla als Gatten und stellte sie komfortabel kalt.

Die Retrospektive einer Unsterblichen

Die „Dame mit dem Hermelin“ geriet in Cecilias Besitz und gehörte bis zu ihrem Tod zum Hausstand. Im 19. Jahrhundert erwarb Adam J. Czartoryski das Werk. Er vermachte es seiner Mutter, die Veränderungen an dem Bild vornehmen ließ.  Heute hängt das mit 350 Millionen Euro versicherte Bild (Quelle) im Krakauer Nationalmuseum. 

Clavadetscher autorisiert das Modell und installiert es als Erzählerin, das in ein Konkurrenzverhältnis zur erzählenden Malerei tritt. Die Autorin imaginiert Cecilias Sicht als Retrospektive einer Unsterblichen. Den von Intrigen beherrschten Mailänder Hof memoriert das Ex-Modell eher beiläufig.

Cecilia erinnert die Langeweile während der Sitzungen. Sie bedauert den Verlust ihrer Werke.

„Meine geschriebenen Worte hat niemand aufbewahrt.“

Nicht jedes Bilddetail verdankt sich der Intension des Urhebers. Die nachträgliche Verdunklung der Umgebung, aus der Cecilia hervorsticht, suggeriert einen (historisch haltlosen) Menetekel-Charakter. Auch das kritisiert Cecilia: nämlich den Verlust des vermutlich von da Vinci erfundenen Sfumato. Die allegorischen Übersetzungen fürstlicher Macht und Zwiespältigkeit offenbaren sich in sprechenden Äquivalenten. Das Hermelin, sprich der Herzog, schmiegt sich zwar an Cecilia, seine Aufmerksamkeit gilt aber Vorgängen außerhalb der Schilderung. Cecilia paart eine Geste der Verbundenheit mit einer Konzentration, die über ihre Zärtlichkeit hinausgeht. Sie leuchtet wie unter einem guten Stern. Ihre von Clavadetscher soufflierten Gedanken und Gefühle suggerieren Tatkraft und Entschlossenheit. Die Einlassungen kontern eine Geduldpose. Cecilia gestaltet ihre Verhältnisse. Sie nimmt nicht mehr als das Nötigste hin. Die Suprematie der Rivalin fordert sie heraus. Ihre Klage hilft besser zu verstehen, dass da Vinci eine relevante, von Hoffnungen angetriebene Akteurin schildert.

Cecilias Schwangerschaft kommt die Bedeutung eines Pfands zu.

Porträtähnlichkeit ist im 15. Jahrhundert erst wieder seit hundert Jahren eine Selbstverständlichkeit. In den Jahrhunderten des vergessenen Wissens entsprachen Rang- und Würdezeichen dem persönlichsten Ausdruck. Die Physionomie hielt man wohl für nicht besonders aussagekräftig. In Italien vollzog sich die Wandlung von der repräsentativen Standesdarstellung zur lebenswahren Zeichnung. Trotzdem entsprach das Einzelporträt nicht der Mailänder Mode, als da Vinci Cecilia malte. 

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, die Dame mit dem Hermelin, Frauen auf weltberühmten Gemälden von Leonardo da Vinci, Vermeer, Rembrandt, Courbet, Schiele, Munch. Wir sehen ihre Körper, ihre Blicke, ihre Kleidung, gebannt oder verbannt in einen ewigen Augenblick.

Doch wer waren sie außerhalb dieses Moments? Martina Clavadetscher ist den Hinweisen ihrer Leben nachgegangen, lässt die Frauen erzählen und gibt ihnen so eine Stimme zurück.

»Ohne diese Frauen, gäbe es kein Staunen, kein Schauen – mehr noch, ohne diese Frauen wäre die Kunstgeschichte, so wie wir sie heute kennen, undenkbar. Diese Frauen waren immer auch Mitarbeiterinnen, Künstlerinnen, Unterstützerinnen, Auslöser, ein Spiegel der Zeit, Ikonen, Inspiration, Partnerinnen, Retterinnen.« Martina Clavadetscher

Zur Autorin

Martina Clavadetscher, geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams erhielt sie 2021 den Schweizer Buchpreis. Sie lebt in der Schweiz.