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Nach zwei parallel geschalteten Pannen-, Pech- und Pleitenserien finden sich Herta und Alwin in ihren Vierzigern damit ab, dass sie in beschissenen Ehen so wie in ausweglosen Schuldenfallen sterben werden. Ohne den amtlichen Verhältnissen einen vernichtenden Tritt zu verpassen, verbinden sie sich in einer heimlichen Liebschaft. Sie geben sich das Nötigste ohne Verzuckerung. Die Liebe erwischt sie kalt. Mit allem war zu rechnen gewesen, nur damit nicht, dass einem prosaischen Arrangement die großen Gefühle folgen würden.
Auf dem Weg nach Wustrow © Jamal Tuschick
Sparflamme bis zum bitteren Ende/Unwichtiger Liebhaber/Amtliche Verhältnisse/Verschwiegener Ausnahmezustand
Nach zwei parallel geschalteten Pannen-, Pech- und Pleitenserien finden sich Herta und Alwin in ihren Vierzigern damit ab, dass sie in beschissenen Ehen so wie in ausweglosen Schuldenfallen sterben werden. Ohne den amtlichen Verhältnissen einen vernichtenden Tritt zu verpassen, verbinden sie sich in einer heimlichen Liebschaft. Sie geben sich das Nötigste ohne Verzuckerung. Die Liebe erwischt sie kalt. Mit allem war zu rechnen gewesen, nur damit nicht, dass einem prosaischen Arrangement die großen Gefühle folgen würden.
Man ließ sich nicht restlos derangieren. Auch die Liebe ist eine Gewalt und Gewalt gab es längst zu viel im Leben von Herta und Alwin. Nach einem halben Jahr im verschwiegenen Ausnahmezustand kriegt Alwin zu einer Diagnose die Prognose: ein Jahr, wenn es hochkommt. Alwin beschließt die Frist mit zusammengebissenen Zähnen in seiner Ehe abzusitzen, diverser Verpflichtungen wegen. Das ist eine typische contre-coeur-Entscheidung. Kein Finale furioso, sondern Sparflamme bis zum bitteren Ende.
Als Liebhaber ist Alwin bald noch unzulänglicher als der Ehemann. Den Unken zum Trotz lebt er aber noch vier Jahre. In dieser Spanne erkennt Herta, dass sie als Kind von Traurigkeit eine Fehlbesetzung ist. Sie bändelt mit Peter Hermann an, er weiß nichts von Hertas heimlicher Großliebe. Alwin kommt in Hertas Erzählungen nicht vor. Während Alwin über Peter auf dem Laufenden gehalten wird. Das Informationsgefälle spiegelt ein Bedeutungsgefälle. Peter ist nicht wichtig. Herta hellt sich in den Stunden mit ihm lediglich auf. Peter spricht sie richtig an, versemmelt nichts. Er kommt Herta nicht blöd und kennt seinen Platz als Abstauber.
Peter gastiert in der Gegend als begehrter Junggeselle und seltsamer Vogel. Verhaltensunauffällig lebt er ohne Frau und Kind. Seinen Eltern gehört die Gärtnerei im Wiesenweg. Peter wohnt im Loft über der von ihm aufgebauten Elektrotechnischen Fabrik für Schaltgeräte und Steuerungsanlagen. Der Prallhang eines verschwundenen Flusses schirmt den Komplex ab. Das verwaiste Bett präsentiert sich als vermooste Mulde.
Der Hermann-Klan besitzt im Überfluss, was viele bis zur Notlage entbehren. Manchmal machen sich Herta und Peter den Spaß, im Ehebett von Peters vor zwanzig Jahren auf einen Schlag verstorbenen Großeltern mütterlicherseits den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Das Großelternhaus dient als Rumpellager. Ein unterirdischer Gang führt aus dem Keller zum Gemeindehaus und zur Kirche.
Das Dorf, in dem Herta zwischen dem Gatten und den Geliebten pendelt, gehörte zum Kasseler Hof. Es war ein Luftkurort und eine Jagdetappe kurhessischer Landgrafen. Zwischen der Kirche, einem Reiterhof und Peters Großelternhaus weitete sich bis in die Neuzeit eine fürstliche Anlage fränkisch-karolingischen Ursprungs.
Im Präsens von Damals - Wie alles begann
Herta checkt im Gemeindehaus ein, ein vertrautes Gesicht, nebenan ist der evangelische Kindergarten. Sie verdrückt sich ins Untergeschoß und geht in die Putzkramkammer. Darin befindet sich die Pforte zur Unterwelt. Das wissen alle christlichen Pfadfinderinnen. Zu Hertas Geisterbahnerlebnissen gehören Erforschungen der Kellergänge. Das Labyrinth changiert zwischen Bunker und Kühlkeller.
Die Pfadfinderinnen haben im Glockenturm einen zweiten Treffpunkt. Seit der Verein koedukativ ist, zieht Knoten- Karten- und Kompasskunde nicht mehr. Ein brennendes Interesse am anderen Geschlecht gibt allem die Richtung. Die amtierende Pfadfinderführerin heißt Herta. Sie hat nichts dagegen, wenn Alwin sie anschmachtet. Die beiden spielen gemeinsam Gitarre. Herta erzählt Alwin, dass sie jetzt stets die Badezimmertür abschließt, um ihren Vater davon abzuhalten, sie rein zufällig in der Wanne zu überraschen. Zum ersten Mal hört Alwin das Wort Spanner.
Im nächsten dramaturgischen Augenblick ist Alwin nach langer Krankheit und zähem Kleben am Leben schlussendlich doch noch im Alter von siebenundvierzig Jahren verstorben.
Zwei Tage nach der Beerdigung verschuldet Hertas ältester Sohn den Unfalltod seiner Eltern. Zu diesem Zeitpunkt hat Peter seit Monaten keinen Kontakt mehr zu Herta. Er steht kurz vor einer Verlobung mit Andrea, die, zwanzig Jahre jünger als Peter, nach einer gescheiterten Ehe mit zwei Kindern sonst allein dastehen würde. Peter ist nicht verschroben genug, um nicht doch noch auf den Kurs der Normalität einzuschwenken. Er heiratet eine Familie, das ist die Abkürzung. Eines Tages entdeckt Andrea ein Bündel Briefe, zusammengehalten von einem Gummi; abgelegt in der Hollywoodschaukel auf der Veranda. Es kommen nicht viele Leute für den infamen Botendienst in Frage.
Andrea nimmt die Briefe an sich und stürzt sich in die Lektüre. Sie kann den Informationsschwall nicht arrondieren. Ihr sagt das alles nichts oder zu wenig. Also konfrontiert sie Peter mit den Briefen. Sie schmeißt ihm das Bündel vor die Füße und nennt ihn vorsorglich einen Dreckskerl.
Peter hat sich nichts vorzuwerfen. Er muss sich von niemanden beleidigen lassen. Er bittet Andrea zu gehen und ihre Siebensachen mitzunehmen. Mit zwei Kindern und zwei Koffern auf der Straße - das Flüchtlingsschicksal möchte Andrea nicht erleben. Sie zeigt Reue. Peter lenkt ein und zieht sich mit den Briefen zurück.
Herta hielt bis zu Alwins Tod einen Briefwechsel in Gang und ihre Post geheim. Die Zustellung erfolgte persönlich. In dem langen Schlussakt überwanden Herta und Alwin die Hemmnisse schlecht alphabetisierter Leute. Sie brachten sich zutraulich wie angefütterte Eichhörnchen auf den neusten Stand. Kein Geltungsdrang hob die Zeilen. Keine Angst vor Blamage schränkte Herta und Alwin ein.
Das Bedürfnis, im Gespräch zu bleiben, einander nicht zu verlieren, war ein starker Motor. Herta fütterte Alwins Interesse am prallen Leben. Die Krankheit machte Alwin zum Zuschauer. Er blieb ungelenk in dieser Rolle.
Herta erzählte Alwin von Peter, „er ist niedlich, einfach gestrickt, grundlos zufrieden, ahnungslos wir alle Männer“. Sie hatte sogar einen Spitznamen für Peter. Ziemlich oft nannte sie ihn „Mogli“. Nie hatte Herta Peter erkennen lassen, dass sie mit einem eigenen Humor bei der Sache war. Ihre Doppelbödigkeit hatte sie ihm vorenthalten. Alwin unterhielt sie damit.
Peter fühlte sich hintergangen. Die unabweisbare Vorstellung, jahrelang Gegenstand konspirativer Betrachtungen gewesen zu sein, riss ein Loch in sein Gemüt. Herta hatte Peter für dumm verkauft, während er sie für dumm gehalten hatte. In Wahrheit waren nur die meisten ihrer Türen für ihn nicht aufgegangen.