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2022-12-05 09:31:13, Jamal

Im Schatten der Bornheimer Sphinx

„Natürlich war ich erst einmal so eine, die auch noch allein auf dem Klo gut aussehen wollte. Nur für mich“, erzählt Paula. „Ich fand mich legendär in meiner Eitelkeit. Nur du hast das nicht mitgekriegt.“

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“The mind adapts and converts to its own purposes the obstacle to our acting. The impediment to action advances action. What stands in the way becomes the way.” Marcus Aurelius

Am Hafen von Althagen © Jamal Tuschick

Gesteigerte Melancholie/Paroxysmen des Menschenhasses/Schmollrefugium

Publikumssüchtiger Eremit

Eine Lustspielfigur „strebt nach Echtheit und liebt eine Mondäne“. Die Kunstgestalt verachtet ihre Kritiker und beachtet doch jedes kritische Wort. So wird „die Macht des Sozialen“ gerade von ihrer Verächterin anerkannt.

Das destilliert Hans Mayer in seinem „Außenseiter“ aus bürgerlichen Maischen. Rousseau charakterisiert er als „publikumssüchtigen Eremiten“. Mayer erinnert an das kümmerlichste, wohl nie vom Autor zur Veröffentlichung bestimmte Shakespeare-Stück - „Timon von Athen“. Der Titelheld verkörpert einen Misanthropen. Hans Mayer erkennt in der Misanthropie gesteigerte Melancholie und in der Melancholie ein fürstliches Privileg.

Schmollrefugium   

Nach einer Niederlage zog sich Marcus Antonius in ein Schmollrefugium zurück, das er Timoneion nannte. 

“Shame not these woods, by putting on the cunning of a carper. - Schände den Wald hier nicht durch die Tiraden des Menschenfeindes.”

Mit diesen Worten lässt Shakespeare Timon in die Schranken weisen. So etwas weiß Goya. Er möchte Paula den Vorwurf theatralischer Effekthascherei machen. Doch löscht eine neue Note der alten Vertrautheit den Wunsch, die Dinge nicht ins Kraut schießen zu lassen. Paulas Entgegenkommen wirft noch nicht lange einen erotischen Schatten.  

Persönlichkeitskernschmelze

„Erinnerst du dich an den Eisen-Leiser in der Heidestraße? Er sang im Bäckerinnungschor.“

Da gelitten wegen der Obermeisterschaft seines Vaters, des Bäcker-Leisers. In der Heidestraße steht die Straßenbahnwagenhalle Bornheim. Die lebenden Fossilien nennen den Betriebshof das katholische Depot (zum Andenken an die vielen aus Unterfranken zum Bau bestellten katholischen Maurer). Die Bombenlücke gegenüber wurde nie geschlossen. Schon wieder Abend, Paula Hermann fintiert vor einer antiken Waschschüssel, daheim im Glauben und im Mangel. Ein Lappen fährt in Achselhöhlen.

Goya Wagner verschweigt sich gemischte Gefühle. Die letzte Nacht hatte keine Taschen. Die Meister singen immer noch jeden Mittwoch in der Burg. Leiser verehrte Goyas Mutter Franz und deren Schwester Toni. Die dezente Doppelwerbung gehört zu den ewigen Themen im Gebiet. Die Schwestern schätzten ihn, er wäre für beide in Frage gekommen. Leiser gewährte jeder Wagner Preisnachlass. Im Rabatt ging die Minne weiter. Leisers Frau arbeitete im Geschäft, ihr kann die Unterströmung nicht entgangen sein. Goya erinnert Leiser als Feind jeder Hast. Er denkt an einen Mann im grauen Kittel, umsichtig, leise, überlegen. Manchmal überheblich. Er verkehrte im Stolzer-Kreis mit Söhnen von Handwerksmeistern, die ihren Stammtisch beim Stolzer und den jungen Stolzer selbst in ihrer Mitte hatten. Heute ist er der alte Stolzer. Die alten Meistersöhne fahren immer noch drei Mal pro Jahr gemeinsam auf ihren Harley Davidsons in den Vogelsberg.

Paula plappert mit den Porzellanpuppen von Goyas Wagner-Oma. Sie erzählt ihnen, was Goya gesagt, getan und gegessen hat. Sie beschwert sich, dass Goya ihr nicht antwortet.

„Wenn du nicht gleich betest, musst du es allein tun.“

„Hört ihr, so streng will er sein.

Die Puppen empören sich, Goya hört die Kellertür, wie sie sich öffnet. Dass nachts jemand in den Keller kommen könnte, lag außerhalb der Reichweite seiner Vorstellungen. Goya erwartet einen Abstieg. Aber da ist jemand an der Tür erst stehengeblieben und dann umgekehrt. Die Tür fällt ins Schloss. Stille breitet sich aus.
„Ist das schon mal passiert?“

Paula verschanzt sich hinter den Omapuppen, ihre überlebensgroße Angst nimmt reale Bedrohungen nicht ernst. Sie hält die Hand vor den Mund und wispert hinter dem Schild wie verrückt.
„Du kannst nicht im Keller bleiben“, entscheidet Goya, als müsse er Paula einen verseuchten Spielplatz verbieten.

„Darf ich baden?“

Leicht könnte Paula eine andere sein, hätte sie ein Badzimmer wie alle Welt. Goya stellt das Nötige bereit. Er versteht, dass Paula nur bürgerlich einziehen kann. Im Museum (Goyas Wohnung heißt so im Volksmund der Gegend) endet die Trennung von Wohlfahrt und Wohlleben.

Paula wechselt den Existenzrahmen. Goya baut ein Bett ins Wohnzimmer. Er kontrolliert seine Nachrichten. Als habe sie den Mund voller Kirschen, so beschreibt Stella ein fernes Glück, es läuft auf dem Fließband des Textes aus. Das Verschwiegene verrät sich in der aufgetriebenen Formulierung. Goya hat keine Lust zurückzuschreiben und die Versicherung für Regentage zu bestätigen. Er vermisst eine Nachricht von Malka. Das macht man doch so, auch wenn es nichts Besonderes war. Allerdings könnte sich Goya auf ein eigenes Versäumnis ansprechen. Ein Streit auf der Straße lockt ihn ans Fenster. Die Nacht dient der Tageshitze als Speicher.

Goya wünscht sich eine Ewigkeit zum Leben. Im Bett stellt er sich tot. Paula vermutet ihren Platz in seiner Seite. Sie schließt auf. Goya bedenkt Blößen, die er sich Malka gegenüber gegeben haben könnte. In der Vergegenwärtigung: Sie scheint mit Interesse bei der Sache zur Abrundung eines gelungenen Abends mit aufregend klingenden und langweilig schmeckenden Getränken. Malka will nicht im Museum übernachten, Goya begleitet sie die paar Meter zum Friedberger Platz, der nach einem Markttag übel aussieht. Manche Schnapsleichen bewegen sich noch. Malka raucht nicht. Sonst könnte man gemeinsam noch eine quarzen, vor dem endgültigen Aus.


„Ihr deutschen Hipster lebt doch alle in Berlin. Warum du nicht?”

„Wer sind schon alle?”

„Was ist das hier? Ich finde Frankfurt nicht.”

Malka fehlt ein Wort. Der Erinnerungsfaden reißt.

Goya wendet sich Paula zu. Wie in einer überbelichteten Diaschau erscheinen in dem verschwindend kleinen Raum zwischen den Gesichtern die gesichtslos gewordenen Manish Boys, mit denen Paula gegangen ist. Nach dem zwölften Schoppen saß sie plötzlich immer noch da. Was war geschehen und wo waren die anderen? Die anderen standen vor den Automaten oder am Kicker oder guckten Fußball im Backstage. Oder sie waren sogar nach Hause gegangen. Sie verfolgten Ziele, bis zur Leitung von Filialen reichte ihr Ehrgeiz. Traktor, Mandelstam, Herr Lehmann-Zwo, Bubba, Gero, die Mamba, die Schwarze Hand und der Blaue Johnny standen der Zielstrebigkeit skeptisch am Tresen gegenüber. Sie blieben Manish Boys und beschallten mit ihren Stereoanlagen weiter das Gebiet. Sie stolzierten durch Lieferanteneingänge. Sie wussten, wie Wurst und Wein gemacht werden. Sie beherrschten kreative Kneipenbuchhaltung. Ihre Interessen wahrten sie mit Händen und Füßen, nicht immer nur, wenn es sein musste.

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Am Morgen setzt die Gewöhnung ein. Paula erzählt, was ihr zuletzt beim Konditor Kronberger passiert ist. Vorgestern wäre sie beinah in Schlappen vor die Tür gegangen. Goya kennt das. Er hat schon im Bademantel seine Nachtasyle abgeklappert. Das war doch auch verrückt und trotzdem ganz normal, denkt er. Hat man Geld, werden Erscheinungen des Wahnsinns zu Grillen. Goya zeigt Paula einen Bund, an dem kein Schlüssel hängt, dessen Schloss noch existiert. Mit den Schlössern sind viele Türen verschwunden, aber die Häuser stehen. Paula spielt mit dem Schädel des Triceratops, den Goya noch lebend sah, kurz vor dem Einschlag. Der Schädel war dann lange Chefaschenbecher in der Bornheimer Burgschenke. Man könnte mit dem alten Aschenbecher die Neumieterinnen vermutlich nicht erschrecken. Sie haben einen Hampelmann mit Strapon an ihrer Balkonbrüstung aufgehängt.