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2022-12-11 08:35:01, Jamal

„Mich wundert’s nicht, dass Judiths Zorn entbrennet … Was war der Narr bei ihr allein und - schlief.“ Johann Wilhelm Ludwig Gleim 1776

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„Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ist in der Realität das Gleichheitspostulat der Geschlechter aufgehoben.“ Hans Mayer

Die Frau mit Waffe

Napoleonischer Bourgeois - Vorbemerkung (sehen Sie auch Kulturtopografie und Hexenschmauch)

Kant ging von der „gegenseitigen Nutzung der Geschlechtsorgane“ in einem Ergänzungsverhältnis aus. Dem egalitären Ansatz begegnete die Französische Revolution mit neuen Differenzierungen. Die napoleonische Bourgeoisie etablierte ein System der Ungleichheit. Folglich wandelte sich die Ikonografie. Die Bastille-Stürmerin dankte ab. Nach ihr demissionierte die Intellektuelle und endlich die elegant-korrupte Personnalité d‘affaires. Hans Mayer illustriert den Prozess der Anti-Egalisierung mit den Beispielen von Théroigne de Méricourt, „der Amazone der Französischen Revolution“, „die den Zug der Pariser Frauen nach Versailles anführte“,  der involvierten Intellektuellen Jeanne-Marie „Manon“ Roland de La Platière aka Madame Roland, sie starb unter der Guillotine, und schließlich mit der postrevolutionären Kurtisane Jeanne Marie Ignace Thérésia Cabarrus, genannt Madame Tallien. Ihnen folgte Joséphine de Beauharnais, die als „erste Kaiserin der Franzosen … keinen Anteil am Männerwerk im Krieg und Frieden eingeräumt (wurde)“. In ihrem Schicksal offenbarte sich das von Mayer breit konstatierte Scheitern der bürgerlichen Aufklärung. Die Aufklärung versagt, so sagt es Mayer, vor ihren Außenseiterinnen.   

„Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ist in der Realität das Gleichheitspostulat der Geschlechter aufgehoben.“

Die bürgerliche Familie konstituierte sich im Herrschaftsgefälle. Im „Lied von der Glocke“ besingt Schiller die „züchtige (nimmer ruhende, für die Wäsche zuständige) Hausfrau“. Greift sie denn zu militärischen Waffen, entsagt sie der Weiblichkeit.

Die Schiller’sche Heroine handelt soldatisch um den Preis ihrer Weiblichkeit. Die „unweibliche Frau“ erschien im bürgerlichen Diskurs ebenso wie im bürgerlichen Drama des 19.  Jahrhunderts als Antagonistin der „domestizierten Gattin“. Überall traten armierte Dramenheldinnen auf, während die Gegenaufklärung um sich griff. „Natürlich“ erschien Kleist „das bewusstlose Magdtum“ des Käthchens von Maulbronn im Dienstverhältnis zu ihrem „hohen Herrn“.  

„Da findet nun die Urteilskraft zuerst, dass der Mann nicht bloß der Mann seiner Frau, sondern auch noch ein Bürger des Staates, die Frau hingegen nichts als die Frau ihres Mannes ist … die Frau hingegen keine anderen Verpflichtungen hat, als Verpflichtungen gegen ihren Mann … das Glück des Mannes hingegen der alleinige Gegenstand der Frau ist.“ Kleist 1800 an Wilhelmine von Zenge  

Hans Mayer, „Außenseiter“, Suhrkamp

Darstellungseros

Der „Übertritt in Abseits“ mag Titanismus (Don Juan), einem Pakt mit dem Teufel (Faust) oder Gehorsam (Jeanne d’Arc) geschuldet sein; doch was, wenn ihn „die Geburt auferlegt“?

Mayer schlägt einen Bogen von der höfischen Melancholie zur bürgerlichen Menschenfeindlichkeit. In der Misanthropie erkennt er gesteigerte Melancholie. Um zwei Ecken findet Mayer eine Auflösung hin zur Innerlichkeit.

„Auch die bürgerliche Menschenfeindlichkeit präsentierte sich … als innerer Vorbehalt des Geistes und des Herzens.“

Die Wollust des Monströsen

Seit dem Mittelalter übertraf die Bluttat der biblischen Judith alle Skandale, mit Frauen in den Hauptrollen. Der Überschreitungsfuror paarte sich mit dem Darstellungseros und eskalierte in der „Wollust des Monströsen“. Judith schlägt nicht nur Holofernes den Kopf ab. Sie schlägt auch Prinzessin Salome im Ranking der gemalten Erzählungen rund um den Themenkreis weibliche Kaltblütigkeit und Kill-Readiness. 

Ich weiß nicht, wie oft ich das Haupt des Holofernes/Judith köpft Holofernes an der Wand einer als herausragende Sehenswürdigkeit ausgewiesenen Kirche gesehen habe. Die Künstlerinnen und Künstler des Mittelalters und der Renaissance gewannen der Judith-Saga noch größeren Reiz ab als Salomes - mit dem Kopf des Johannes belohnter - Tanz.

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Beschworen Verbrechen die Rache des Himmels herauf, erfolgte die Ahndung nach dem Sacratio capitis.

„Blut war besonders wirksam, um zu verfluchen, wer für etwas verantwortlich war, das die Götter und das römische Volk beleidigte.“ Quelle

Hans Mayer exponiert den weitgehend vergessenen Doppelcharakter von sacré/sacer. Das Heilige war vor seiner christlichen Eingrenzung „den Göttern geweiht und mit einer unauslöschlichen Befleckung behaftet, erhaben und verflucht, verehrungswürdig und abscheulich“. Émile Benveniste, zitiert nach Quelle     

Judiths Empowerment

„Sehet, dies ist das Haupt des Holofernes, des Feldmarschalls der Assyrer, und sehet, das ist die Decke (das Mückennetz), darunter er lag, als er trunken war. Der Herr hat ihn durch die Hand einer Frau erschlagen.“ Buch Judith 13,15

Luther arbeitete sich an Judiths Ermächtigung ab. Nach seinen Begriffen verkörperte die Legendäre „das jüdische Volk“ und Holofernes den „Prophanus dux / vel gubernator / Heidnischer / Gottloser oder vnchristlicher Herr oder Fürst / Das sind alle Feinde des Jüdischen volcks.“ Quelle   

Der Reformator „allegorisierte“ Judith und ihren Guerrillaakt. So schloss er die israelische Heldin von dem Recht auf Individualität aus. Als „Akteurin einer einzigen Tat mit einem singulären Gegenspieler und Opfer“ erscheint sie in allen möglichen Lesarten durch die Jahrhunderte als „Monstrum“. In der bürgerlichen Emanzipation zieht sie die Abwehr einer „Unnatur“ auf sich. Man schreibt die „Heroine von Bethulien“ ab.

„Judith wird … in der Bürgerwelt zur totalen Außenseiterin.“ Ich komme darauf zurück.

Die Frau mit der Waffe

„Die Beliebtheit des Stoffes erweist sich in jeder religiösen, sozialen, nationalen Konstellation.“

Mayer erinnert an Spielmannsgedichte fränkischer Provenienz und barocke Laienspielstücke zu Ehren der „obsiegenden Judith“. Der in den Adelsstand erhobene, schlesische Metzgerssohn Martin Opitz aka Opitz von Boberfeld nobilitierte die Streiterin, um sie seinem aristokratischen Publikum näherzubringen. „Das Faszinosum einer Frau … die mordet, nicht bloß sich verteidigend, sondern alles in einem repräsentierend, was alleiniges männliches Privileg gewesen war, Prophetentum, Gefäß des Göttlichen, Sieg im Zweikampf, Heroentum“, provozierte einen nie versiegenden Deutungsstrom. Mayer entdeckt Judith in Seitentaschen der Oktoberrevolution. In Wsewolod Witaljewitsch Wischnewskis „Optimistischer Tragödie“, einem in der DDR breit rezipierten realsozialistischen Konsolidierungsdrama aus dem Jahr 1932, erscheint eine namenlose Kommissarin als „die Frau mit der Waffe“. Die Bolschewistin soll 1918 eine anarchistische Kriegsschiffbesatzung zur Räson und auf Linie bringen. Sie erschießt einen Matrosen, der sie zu vergewaltigen versucht. Die Kommissarin handele, so Mayer, „nach Art der Jeanne d‘Arc und der Judith“, folglich im Rahmen einer geschichtlichen Mission. Jeanne und Judith sind Empowerte.

„In dreifacher Topik vollzieht sich im … 19. Jahrhundert … das Scheitern von Aufklärung vor den weiblichen Außenseitern: als permanente Neudeutung des Skandals der Jeanne d’Arc; als Verwandlung Judiths in eine bürgerliche (und revolutionäre) Heroine; als Transformation der Dalila zum Vamp“. Scharen von dämonischen Undinen geistern durch die Belle Époque. Die aus allen möglichen Fingern gesogene, noch nicht mal in der Brüchigkeit biblischer Historizität mit dem Namen Salome verknüpfte, im 19./20. Jahrhundert von Aubrey Beardsley, Lovis Corinth, Edvard Munch, Franz von Stuck und Oskar Kokoschka zu einem Epochen-Topos hochgejazzte Story bildet ein eigenes Genre. Zuvor war der Tanz der Salome/Salome mit dem Haupt des Johannes von Benozzo Gozzoli, Bartolomeo Veneto, Tizian, Lucas Cranach dem Älteren und Caravaggio gemalt worden.

Die „Evokation eines weiblichen Außenseitertums“ stiftet der bürgerlichen Partizipation an feudaler Macht auf dem Weg zur Machtübernahme einen eigenen Themenkreis. „Fast süchtig“ betreiben Patrizier die Ausgrenzung bereits in „der Epoche zwischen Erasmus und Shakespeare“. Die Stigmatisierung der Frau als „Verderberin“ kursiert als literarischer Allgemeinplatz und Malerphrase. Bilder der kaltherzig-kindlichen Betörerin Salome aka femme fatale verlieren in Jahrhunderten nicht ihren Kurswert.

„Das Weiblich-Unheimliche (ist) nicht zu domestizieren.“

Die bürgerliche Emanzipation verteidigt die Menschheit gegen ihre Moden. In der Zauberflöte kontert Sarastro den Einwand, Tamino sei ein Prinz, mit den Worten: „Er ist mehr als das, er ist ein Mensch.“ Hans Mayer in einer Komprimierung.

Frauen trennt der bürgerliche Fortschritt des 19. Jahrhunderts von der Gleichheit. Judith provoziert „eine Zurücknahme der Aufklärung“. Mayer beruft sich auf Friedrich Hebbels 1840 verfassten Tragödie „Judith“.

Aus Hebbels Tagebüchern

„Die Judith der Bibel kann ich nicht brauchen. Dort ist Judith eine Wittwe, die den Holofernes durch List und Schlauheit in’s Netz lockt; sie freut sich, als sie seinen Kopf im Sack hat … Meine Judith wird durch ihre That paralysirt … in der Judith zeichne ich die That eines Weibes, also den ärgsten Contrast, dies Wollen und Nicht-Können, dies Thun, was doch kein Handeln ist.“ Originalschreibweise, Quelle

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Vom »Denkparadox« und der zugleich geschichtlichen Realität ausgehend, »daß die Anerkennung von Lebensrecht und Würde der existentiellen Außenseiter am besten in jener Ära gesichert war, da adlige Aufklärer unter dem Ancien Régime die bürgerlichen Forderungen vertraten«, entdeckt Mayer das Scheitern des Bürgertums im Versuch, das Unvereinbare zu verbinden: die Forderung nach Sicherung bourgeoiser Herrschaft mit der nach freier individueller Verwirklichung – wie außenseiterisch sich diese als existentiell veranlagte Normabweichung auch ausnehme. Richtet sich Mayers Blick vom historisch Erfahrenen auch wieder nach vorn, fordert er die Fortsetzung von »ihren bürgerlichen und geschichtlichen Ursprüngen abgelöster« Aufklärung als der »permanenten Revolution«, so doch in erklärter Gegenstellung zu einem abstrakt bemühten Utopismus allgemein-gesellschaftlicher Emphase, in der Hinwendung zum letztlich maßgebenden Bedürfnis und Anspruch des Einzelnen. Das Buch entwickelt seine Problematik beispielhaft und zentral an der Stellung bürgerlicher Gesellschaft und ihrer Literatur zur Frau, zu gleichgeschlechtlicher Liebe und Judentum. Es gelingt ihm deren darstellerische Bewältigung aus stupender Belesenheit und in methodischer Schmiegsamkeit.

Zum Autor

Der Wissenschaftler, Kulturkritiker und Schriftsteller wurde am 19. März 1907 in Köln geboren. Er studierte Jura, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und Berlin. Als Jude verfolgt, war er von 1933 bis 1945 in der Emigration in Frankreich und in der Schweiz. Von 1948 bis 1963 lehrte er Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig. Zwischen 1965 und 1973 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Technischen Universität Hannover. Danach lebte er als Honorarprofessor in Tübingen.

1935, im Exil, begann er mit den Vorarbeiten für sein großes Werk über Georg Büchner; ohne Zuspruch von Carl J. Burckhardt wäre das Opus magnum nicht beendet worden. 1972 erschien eine Neuausgabe im Suhrkamp Verlag. 40 Titel von ihm sind seitdem in »seinem« Verlag publiziert worden, darunter Bücher über Goethe und Brecht, Thomas Mann und Richard Wagner; der letzte in diesen Tagen: »Erinnerungen an Willy Brandt«. Bundeskanzler Schröder drückte darüber brieflich noch seine Hochachtung aus.

Hans Mayer war ein Lehrer für uns Deutsche. Ein Wissenschaftler, der mitten im Stalinismus Autoren wie Kafka, Proust, Joyce und Bloch verteidigte, der, wo immer in der Welt er lehrte, Literatur befragte, ob sie geeignet sei, Humanität zu befördern. Ein Gelehrter zwischen den Fronten, dessen wichtigste Werke nicht zufällig den Unbotmäßigen und »Außenseitern« gelten. Seine Erinnerungen waren Erinnerungen eines »Deutschen auf Widerruf«. Die Beschwörungen eines anderen Deutschland bereiteten neuen Kräften wie Uwe Johnson den Weg.

Hans Mayer ist Ehrenbürger der Städte Köln und Leipzig, Ehrendoktor der Universitäten in Brüssel, Wisconsin und Leipzig, Ehrenprofessor der Universität Peking, Träger des »Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland«.

Hans Mayer, Nestor der deutschen Literaturwissenschaft, starb am Sonnabend,
dem 19. Mai 2001, im Alter von 94 Jahren in Tübingen.