Im Schatten des Schweigens
Zweiter Teil meiner Besprechung zu „She Said“, Spielfilm 2022, Regie: Maria Schrader, Drehbuch: Rebecca Lenkiewicz. Mit Carey Mulligan, Zoe Kazan, Samantha Morton, Ashley Judd
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Am 5. Oktober 2017 veröffentlichte die New York Times unter dem Titel „Harvey Weinstein Paid Off Sexual Harassment Accusers for Decades“ einen Artikel, in dem der Genannte der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde. Die Rede war von mindestens acht Vergleichen zur Abwehr gerichtlicher Feststellungen von Delinquenz. Die redaktionelle Freigabe des Textes bildet den Schlusspunkt des Films.
Fünfminuten-Elegien der Vergeblichkeit
Nach einem steilen Aufstieg in Harvey Weinsteins Imperium verschwindet eine junge Frau so vollständig in der Versenkung, dass noch nicht einmal Facebook weiterhilft. Die Investigativ-Journalistin Megan Twohey (Carey Mulligan) macht sie 2016 dennoch ausfindig. Zur Begrüßung sagt die Verschollene: „Ich habe seit siebenundzwanzig Jahren darauf gewartet, dass jemand an meine Tür klopft.“
Mehr sagt sie nicht. Die Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen: Diese Frau hat die Hoffnung auf Gerechtigkeit verloren.
Die Szene ergibt sich in einem Potpourri städtisch-krachender Unauffälligkeit. Ein Moment, der ein Schicksal wenden könnte, verstreicht. Die Ausgestoßene verliert sich im Schatten des Schweigens. Solche Fünfminuten-Elegien der Vergeblichkeit sind nicht selten in Schraders Verfilmung von Kantors und Twoheys #MeToo-Fakten-Thriller „Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung“.
Fallrückziehern der Besorgnis
Twohey registriert in der Handlungskeimzeit bereits seit zehn Jahren die Ambivalenz zwischen dem Offenbarungswunsch von Frauen, die Erfahrungen mit sexual harassment and unwanted physical contact machen mussten, und Fallrückziehern der Besorgnis. Die Frauen reagieren verstört auf ein „System zur Unterdrückung von Klagen wegen sexueller Belästigung“, da es die Beklagten begünstigt. Verschwiegenheitserklärungen kommen in einem sexistischen Rahmen zustande. Das stellt auch Twoheys Chefin Rebecca Corbett fest.
“’People would say that two women had broken the Weinstein story, but it had really been three’ … the third woman is Rebecca Corbett, who leads the investigations department at The New York Times.” Quelle
Am 5. Oktober 2017 veröffentlichte die New York Times unter dem Titel „Harvey Weinstein Paid Off Sexual Harassment Accusers for Decades“ einen Artikel, in dem der Genannte der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde. Die Rede war von mindestens acht Vergleichen zur Abwehr gerichtlicher Feststellungen von Delinquenz. Die redaktionelle Freigabe des Textes bildet den Schlusspunkt des Films.
Corbett spannt Twohey zusammen mit der leidenschaftlichen, wie eine Künstlerin beflügelt-engagierte Investigative Jodi Kantor (Zoe Kazan). Kantors Credo lautet: „Ich muss den Berg kennen, auf dem ich bereit bin zu sterben … Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist für mich dieser Berg.“
Trotz einer pränatalen Depression, wirkt Twohey in dieser Konstellation robuster. Fast zwanghaft geht sie dahin, wo es weh tut.
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Die Journalistinnen stoßen auf eine anonyme Beschwerde aus der Gründungsphase von „Miramax“, dem Weinstein’schen Wunderhorn voller Wettbewerbssiegerfilme - ein bis zur Erstklassigkeit scharf gemachtes Kino aus der zweiten Reihe des Hollywoodgeschehens; Highlights ihres Genres, die in einer Tradition regelmäßig versenkter Filme stehen, um als Programmkinoperlen in den Etuis der Liebhaberinnen zu enden, wenn nicht Weinstein daraus Kassenschlager macht.
Twohey und Kantor treffen Zelda Perkins. Sie unterschrieb nach einer kurzen Spanne als Weinstein-Angestellte eine Verschwiegenheitsvereinbarung. Ihren ehemaligen Chef bezeichnet sie als zwanghaften Eroberer.
Weinstein setzt seine Mitarbeiterinnen einem Wechselbad der Gefühle aus. Mitunter überschüttet er sie mit Gratifikationen; überlässt ihnen den Firmenjet; verschenkt Wochenenden in Ritz-Suiten. Gleichzeitig traktiert er sie mit brachialen Avancen.
Gesellschaftlich punktet Weinstein mit einer liberalen Patina auch als Wahlkampfhelfer für Hillary Clinton.
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Jahrzehnte machte sich ein Mächtiger Karrierehoffnungen zunutze. Hotelzimmer verwandelte er in Schreckenskammern.
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1997 ist Rose McGowan „die Königin“ des Sundance Film Festivals. Das unabhängige Kino steht einmal wieder im Zentrum einer kulturellen Erhebung. Independent firmiert als Markenzeichen. Als Pate der Sieger:innen erscheint Weinstein. Er hat nicht nur „Reservoir Dogs“ groß gemacht. McGowan nimmt eine Einladung ins Resort Stein Eriksen Lodge Deer Valley an und erlebt da etwas, dass Weinstein mit Geld aus der Welt schaffen will.
McGowan spricht offen über den Ablasshandel und verstößt damit gegen die Spielregeln eines erkauften Schweigens.
„Die Studios diffamieren die Opfer und kaufen sich frei.“
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Eines Tages alarmiert Kantor „eine Reihe panischer Textnachrichten“ von Gwyneth Paltrow. Der Commander of the British Empire (kein Scherz) Weinstein stünde vor ihrem Haus in den Hamptons. Paltrow ist nicht bereit, ihre - den Produzenten schwer treffenden - Vorwürfe öffentlich zu vertreten. Zu groß ist die Angst vor der „Wasserstoffbombe“ Weinstein.
„Paltrow stellte klar, sie sei noch weit davon entfernt, die Geschichte offiziell freizugeben. Sie habe, gelinde ausgedrückt, in der Presse gerade keinen guten Stand. Ihre E-Commerce- und Lifestyle-Marke Goop hatte …“
Die Unternehmerin argumentiert mit Hypotheken von ihr Abhängiger.
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Gwyneth Paltrow lernte Weinstein beim Toronto Film Festival Anfang der 1990er Jahre vor einem Fahrstuhl kennen. Er gerierte sich als Talentförderer und versprach, die Newcomerin groß herauszubringen. Der Produzent bot Paltrow die Hauptrolle der E. Woodhouse in einer Adaption von Jane Austens „Emma“ an. Als umschwärmte, mit Brad Pitt liierte Protagonistin der Weinstein‘schen Miramax-Crew rauschte Paltrow auf. Eines Tages bat Weinstein sie um ein Treffen im Peninsula Hotel in Beverly Hills; der „Privatsphäre“ wegen in einer Suite.
„Ich kam dort angehüpft wie ein Golden Retriever, total glücklich, Harvey zu sehen.“
Weinstein wurde schnell übergriffig. Paltrow entzog sich konsterniert. Ein „Onkel“ entpuppte sich als Grabscher. Pitt intervenierte bei nächster Gelegenheit. Er riet Weinstein zu größerer Zurückhaltung. Man ahnt das gemäßigte Klima, in dem die Zurechtweisung erfolgte.
Weinstein war nicht gemäßigt. Ablehnung in der Preisklasse einer hochgezogenen Braue kriegte er gar nicht mit. Die Debütantin bedrohte er am Telefon und erklärte ihre Karriere für beendet. Die Angegangene reagierte entsetzt. Man arrangierte sich.
„Das Ethos von Hollywood bestünde darin, sagte (Paltrow), Beschwerden herunterzuschlucken und sich mit genau solchem Verhalten abzufinden.“
Paltrow behauptet, sich als Einzelfall wahrgenommen zu haben. Ihr sei nicht bewusst geworden, dass sie an Fäden eines sexistischen Puppenspielers so hing wie zig andere. Sie rutscht aus Weinsteins Fokus. Zwanzig Jahre später beschränkt sie sich zunächst auf die Rolle einer Informantin.
Die Journalistinnen tasten sich immer wieder in Sackgassen vor. Eine Horrorreferenz bietet ihnen Donald Trump, dem eine Salve entlarvender Artikel nichts anhaben konnte.
Wie auf einer polizeilichen Pinnwand mehren sich die fallanalytischen Details so wie jene Einzelheiten, die das Täterprofil ergänzen. Und zwar mitunter auf irritierend unerwartete Weise. Kantor konfrontiert einen ahnungslosen Ehemann mit der Tatsache, dass seine Frau eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterschrieben hat.
Aus dem Gedächtnis: „Sehe ich aus wie der Ehemann einer Frau, die eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterschrieben hat?“
Narrative Zeitzünder
Auch Ronan Farrow arbeitet an einer Weinsteinstory. In seiner Drachentöter-Saga „Durchbruch“ charakterisiert Farrow den Mogul als „Raubtier“. Der Prädator pflegt einen bedrohlichen Kommunikationsstil. Rivalen setzt es „mittelalterlich“ zu. In Hollywood gibt Weinstein sich die Dimension einer Urgewalt. Wer ihm in die Quere kommt, kann manchmal nur noch auf einem anderen Kontinent neu anfangen. Der Unantastbare hat die Macht, seine Gegner:innen verbannen - zu zersetzen - zu verwüsten. Mal dreht er sie durch den Verleumdungswolf und macht Pariawürste aus ihnen. Dann wieder erschreckt er Leute mit erschreckenden Leuten.
Die klassische Konkurrenzsituation findet im Film Erwähnung, ohne dass narrative Prisen eingestrichen werden. Dies als weiteres Beispiel für Schraders unterschwellige, verzögert zündende Erzählmanier.
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Beim Telefonmeeting mit dem angeschossenen, zur Gegenwehr mit allen Mitteln wild entschlossenen, von einem Verteidigungsteam flankierten Raging Bull, konfrontiert Twohey den Hollywood-Produzenten mit den Rechercheresultaten. Sie trägt die journalistische Liste seiner Verfehlungen vor und pariert dann Weinsteins Winkelzüge.
Charles J. Harder kommt ins Spiel. Harder wusste „seinen Teil dazu beizutragen … dass die Klatsch-Webseite Gawker offline gehen musste, indem er sie im Namen von Hulk Hogan bankrott klagte“. Er betritt die Arena mit dem Ruf, „die vielleicht größte Bedrohung für Journalisten, das First Amendment und überhaupt für das Grundverständnis von Pressefreiheit“ in den Vereinigten Staaten zu sein.
Später wird Harder seinen Mandaten wegen nicht gezahlter Anwaltskosten in Höhe von 180.000 Dollar verklagen.
Weinstein setzt Harder als Joker in der Konferenzschaltung ein. Die New York Times gibt dem unter Druck Geratenen Gelegenheit, sich zu erklären. Weinstein wütet. Er obstruiert die Manöver, der von ihm zu seiner Rettung an Bord geholten Koryphäen mit einem eklatanten Mangel an Selbstbeherrschung. Noch hält sich der Tycoon für unangreifbar.
Ashley Judd (sie spielt sich selbst) zieht den Karren aus dem Dreck, indem sie ihre Beiträge zur Aufdeckung mit der Preisgabe-Erlaubnis ihres Namens adelt. Jetzt gibt es kein Halten mehr.