Bizarre Seelenenge
„Es gibt keine Dämmerung in unserem Tagesablauf in Neuseeland, nur eine seltsame halbe Stunde, in der alles bizarr wirkt.“ Katherine Mansfield
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„Was wir brauchen, ist … ein Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens.“ Antonio Gramsci
Auckland-Existenzialismus
Virginia Woolf bewunderte sie bis zur Eifersucht. D. H. Lawrence gefiel der freie Lebensstil der ledig schwanger gewordenen, früh vollendeten und früh verstorbenen neuseeländisch-britischen Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888 - 1923).
Neuseeland führte das (aktive) Frauenwahlrecht bereits 1893 ein. Quelle
Zu Lebzeiten publizierte Mansfield wenig mehr als die in Rede stehenden, im Nachhall des Viktorianischen Zeitalters* entstandenen, von spröder Psychologie angetriebenen, an den Joyce-Ton der „Dubliners“ erinnernden, 1922 erstmals in einer Einzelveröffentlichung zusammengefassten Kurzgeschichten.
*Die Wohnzimmerwände eines Farmhauses sind mit „Seiten aus englischen Zeitungen tapeziert. Königin Victorias Thronjubiläum (scheint) das neuste Blatt zu sein“.
Am 23. September 1896 feiert Victoria ihr diamantenes Thronjubiläum.“ Quelle
Die epochale Wucht - in der neuseeländischen Wildnis - gescheiterter, von rigiden Moralbegriffen eingeengter Glücksucher:innen dynamisiert die erste Geschichte - „Die Frau im Laden“. Die landschaftliche und anti-gesellschaftliche Weite verjüngt sich zur bizarren Seelenenge. Ein bigott-rigoroser Biedermeier-Imperialismus britischer Provenienz diktiert die Konventionen, ohne dass eine einzige Voraussetzung für koloniale Landnahme erfüllt wäre. Im Gegenteil. Die Natur schluckt den Menschen. Sie verschlingt erst seinen Ehrgeiz und dann den schieren Überlebenswillen.
Katherine Mansfield, „Die Gartenparty“, Short Storys, aus dem Englischen von Irma Wehrli, Manesse Bibliothek, 26,-
Ein Pferd, das aussieht, als wolle es gleich „losheulen“. Ein Kohlkopfbeet das nach „abgestandenem Spülwasser“ mieft. So koloriert Mansfield ihre Szenen. Die Ich-Erzählerin, eine Heranwachsende namens Laura Sheridan, reitet, begleitet von zwei Brüdern, zu einer aufgegebenen Poststation. Der Stützpunkt liegt schon länger nutzlos am Schienenstrang nach Napier. Die ehemalige Postmeisterin führt einen kaum je frequentierten Laden. Einst soll die erschlagend Derangierte „hübsch wie eine Wachspuppe“ gewesen sein. Jetzt ist ihre Attraktivität dahin.
Laura glaubt, ihr Gewährsmann wolle ihr einen Bären aufbinden.
„Jetzt hör aber auf, Jim. Das ist nicht dieselbe Frau.“
Die allseits geknickte Hoffnung richtet sich in kindlichem Lebensmut wieder auf. Die sechsjährige Tochter der Versprengten zeichnet. Else hält ihre Welt auf Butterbrotpapier fest. Sie gestaltet in auswegloser Öde. Ihre Mutter offenbart den Durchreisenden eine Depression. Wahrscheinlich wurde sie mit Else vom Ex-Postmeister sitzengelassen. Sie bleibt nicht allein in dieser Nacht. Am nächsten Morgen ist die Abreisegesellschaft kleiner als es die Reisegesellschaft am Vortag war. Shakespeare schreibt: „Misery acquaints a man with strange bedfellows.“
Lauras Anteilnahme ist irritierend parteiisch. Scheinbar komplizenhaft teilt sie den männlichen Standpunkt. Die Erzählerin beteiligt sich am Spott über die desperate Ladenbesitzerin. Freimütig fraternisiert sie mit den - im Verhältnis zu ihr - subalternen Brüdern. Allerdings stellt sie sich nicht auf eine Stufe mit ihnen.
Laura taucht in der Titelgeschichte des Erzählbandes wieder auf. Wieder liegt es an ihr, ein soziales Gefälle geringfügig erscheinen zu lassen. „An einem wunderschönen Morgen“ ist sie freundlich zu Arbeitern, die ein Geburtstagsfestzelt im Garten ihrer Eltern errichten.
Laura ahmt den Tonfall ihrer Mutter nach, die Imitation klingt „so schrecklich affig“, während sich die Männer „ungezwungen“ geben. Die Beobachtung eines Arbeiters, der den Lavendelduft lustvoll einsaugt, lässt die höhere Tochter innerlich überlaufen. Im Gegenlicht der uneitlen Proletarierperformance, erscheint das bürgerliche Umfeld dramatisch uninteressant.
Die Tanzpartner sind „dumme Jungs“.
Kurz imaginiert sich Laura als „Arbeitermädchen“. Dann ruft man sie zurück in den Schoss einer Familie der gehobenen Mittelklasse. Laura überlebt ein Kreuzfeuer widersprüchlicher Empfindungen, bis die vertrauten Muster sie wieder im Griff haben.
Mansfield beschreibt Herrschaftsverhältnisse, deren Perpetuierung eine klassenübergreifende Angelegenheit ist. Das Gesinde will in keinem mediokren Haushalt dienen.
Den spleenigsten Snobismus offenbaren opulente Blumenlieferungen, obwohl der Garten in voller Blüte steht. Der Bote jenes Konditors, dessen Windbeutel auf jeder Party der Sheridans zum Angebot zählen, kommt mit einer schlechten Nachricht, die er „genüsslich“ verbreitet. Ein Fuhrmann ist tödlich verunglückt. Er hinterlässt eine Frau und fünf Kinder. Laura will die Party abblasen, ihre Schwester Jose zeigt sich indigniert wegen der (in ihren Augen) unangemessenen Anteilnahme am Schicksal der dienenden Bevölkerung.
Auch die Mutter weist Laura zurecht: „Diese Leute erwarten keine Opfer von uns.“
Der Unfall bietet Mansfield die Gelegenheit zum Perspektivwechsel. Sie schildert einen „Schandflecken“ als Heimstatt der Hinterbliebenen des frisch Verstorbenen. Mansfield liefert den krassesten Gegensatz, indem sie die „Gärtchen“ der Armen in der Nähe des Anwesens der Sheridans lokalisiert. Man sieht „nur aufgeschossenen Kohl, kranke Hühner und leere Tomatendosen.“
Die Sheridans verbinden mit dem Elend der anderen vor allem „Ansteckungsgefahr“.
Die Autorin setzt ihre Heldin einem Gefühlswechselbad aus. Laura schwankt zwischen Standesdünkel und Verachtung der Konventionen. So erscheint sie als das typischste Produkt ihrer Klasse. Dazu bald mehr.
Aus der Ankündigung
Mit dieser exklusiven Auswahl lässt sich die Meisterin der kleinen Form (wieder)entdecken. Es war der kurze, oft alles entscheidende Lebensmoment, der Katherine Mansfield faszinierte. Ganz bewusst konzentrierte sie sich auf die detaillierte Beschreibung des Augenblicks: Die junge Hutverkäuferin, die am Fenster sitzend von Pelzmänteln und Sportcoupés träumt. Der Schock einer Sippe aus der High Society, als man vom gewaltsamen Tod eines Anwohners hört, dann aber doch darauf verzichtet, die Gartenparty abzusagen. Der Moment, in dem die Ehefrau begreift, dass ihr Mann die Hand ihrer Freundin um eine Sekunde zu lang gehalten hat. Wie kaum einer anderen Autorin gelingt es Katherine Mansfield, stets jenen Zeitpunkt einzufangen, der die ganze Wahrheit offenbart.
Mit ihren Erzählungen schuf sie eine moderne Form der englischen Kurzgeschichte und gleichzeitig ein Werk, das dank seiner psychologischen Raffinesse bis heute nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt hat. Wer moderne Literatur liebt, die unterhaltsam und raffiniert zugleich ist, kommt an dieser Autorin, die selbst Virginia Woolf als "die beste aller Schriftstellerinnen" bezeichnete, nicht vorbei.
»Splendide Neuübersetzung von Irma Wehrli, die der atmosphärischen Dichte der Originale sehr nahekommt. Mansfield war eine Meisterin der Short Story in der Nachfolge Tschechows…. Es verwundert nicht, dass Virginia Woolf diese grandiose Erzählerin beneidete – und mit ihr befreundet war.« NZZ Bücher am Sonntag, Manfred Papst (27. November 2022)
Zur Autorin
Katherine Mansfield (1888–1923), aufgewachsen in der Kolonialwelt Neuseelands zwischen Maori-Bräuchen und Cellospiel, beginnt schon im Mädchenalter zu schreiben, entflieht, kaum volljährig, ihrer Familie nach London, wird schwanger, erleidet in Bad Wörishofen eine Fehlgeburt, wird zum Star der jungen Literaturszene und stirbt mit nur 34 Jahren in Fontainebleau. Ihr schmales Werk zählt zur modernen Weltliteratur.