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2022-12-19 08:28:23, Jamal

Bereits im Winter 1991, Gorbatschow saß noch im Kreml, fing er an, seine Memoiren zu schreiben. Er machte sich Notizen wie ein Journalist, der einen Politiker beobachtet.

„Da wussten wir (Höflinge): es ist aus.“ Aus Alexander Kluge/Gerhard Richter, „Dezember“

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„Manchmal befürchte ich, dass es keine Menschen einfachen Gemütes mehr gibt.“ Katherine Mansfield

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„Ich liebe solche Tage - ungewöhnlich einsame Tage. Ich liebe es über alles, allein zu sein. Dann lege ich mich hin, rauche, blicke ins Feuer.“ Katherine Mansfield

Allgäu 2022 © Jamal Tuschick

Virtuosinnen des Unwesentlichen

Beamtinnen richten ihre Schienbeinschützer mit der Konzentration von Spielerinnen, die sich auf ein Match vorbereiten. Ihre Gegenspielerinnen erscheinen nicht weniger uniformiert auf der Bornemann Avenue (vormals Glauburg Straße). Gunda trägt ihren Tiroler Strohhut durch den schwarzen Block, Sorglosigkeit vortäuschend. Die Politpunks sind ihr nicht geheuer. Wo ist jetzt noch mal die Galerie? Nasenschleim sagte doch, man müsse lediglich … die Galerie ist im richtigen Leben ein Geschäft für gehobene Alltagsgegenstände in einem seit Jahren eingerüsteten Haus. Das Haus wirkt betrübt wie ein Eckensteher. Alle haben es schon einmal erst einmal nicht gefunden.  

Intelligenter Idiot

Gunda rangiert zwischen betreutem Wohnen und geschützter Werkstatt als Spezialfall im Gebiet (Nordend). Burg-Chefköchin Bettine kümmert sich rührend bis rabiat um ihre Lieblingsküchenhilfe. Gunda übernachtet abwechselnd bei ihrer Chefin daheim auf der Couch und im toten Trakt der Burg. Dazu später mehr.  

Gunda erwartet, Goya in der Galerie zu treffen, Ihr entging nicht, dass er vom Mauerblümchen zum sexuellen Vielfraß mutiert ist. Sie fühlt sich dem intelligenten Idioten prickelnd nah.

Goya zählt zu den trüben Tassen mit hellen Momenten.

Gunda erlebt Goya als einen Virtuosen des Unwesentlichen. Ihr gefällt das. Gunda würde auf der Stelle mit Goya hinter die Wolken. Mit dem unverdünnten Instinkt jener basal Gestrickten, die kaum Berechnungen anstellen, weiß sie, dass Goya mit einem Subwoofer für ihre tieffrequenten Schallwellen ausgestattet ist; dass er sie vollständig empfangen kann.  

„Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.“ Epikur   

Gunda geht an allen vorbei auf die Bilder zu. Von Kunstleuten verspricht sie sich gar nichts.  

„Beliebige Rekombinationen fieberhafter prekärer Aktivität haben das politische Bewusstsein verdrängt.” Franco Berardi 

Die Künstlerin trägt eine kunstvoll gekniffene Gemüsetüte auf dem Kopf. Sie spielt mit einem Kind, außer Gunda schaut sich kein Mensch Bilder an. Gunda tut auch nur so, um ihr Interesse an Goya nicht zu groß erscheinen zu lassen. Sie hat schon spitzgekriegt, wo er steckt. Er unterhält sich mit hageren, truthahn-halsstarrigen Wochenmarktfetischistinnen. Der Faltenwurf der Haut passt zum verknitterten Leinen.  
Die Unerbittlichen setzen nackte Füße als Instrumente des Terrors in Flipflops ein. Gunda vermutet eine Lust am stillen Krawall. Jemand spricht von Haushaltsauflösungen. Haushaltsauflösung kursiert als Codewort für Einbruch und Diebstahl. 

Auf Goyas T-Shirt steht in durchgehaltener Kleinschreibung embrace the process. Zurzeit zählt er zu den drei begehrtesten Junggesellen zwischen Holzhausen- und Günthersburgpark. Für die aus Schaden klug gewordenen Dreißigjährigen stellen Goyas familiäres Prestige, sein aktuelles Vermögen und die Aussicht auf noch viel mehr Verlockungen dar, die ihnen beim ersten Durchgang entgangen sind. Goya ist nicht nur ein allezeit freundlich-unkomplizierter, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. Ihn belastet auch kein Scheitern, während die meisten aus der Referenzkohorte für ihre Familienfehler heftig blechen müssen.

Goya weiß selbst nicht, wie ihm so viel Gutes widerfahren konnte, nach widrigen Liebesanfängen. Nie wollte eine seine Freundin sein. Lange hieß es, der alimentierte Tölpel könne bestenfalls als Burgknecht ein Auskommen finden, müsste er denn für sich selbst sorgen.

Ein Ausrutscher seiner Mutter

Aber das muss der „Ausrutscher“ seiner Mutter nicht. Die allseits bekannte Antonia ‚Toni‘ Wagner ließ sich einst in einem legendären Eschersheimer Backstage-Bereich folgenreich ein mit dem Vietnamveteranen und NSA-Agenten Wayne Raymond. In Verkennung der Tatsachen nannte man den Mann aus Natchez, Mississippi, den letzten Hippie von Frankfurt. Man sortierte ihn zu den heroinsüchtigen Ex-GIs, die mit ihren ergrauten Beatschuppenbekanntschaften in höhlenartiger Abgeschiedenheit existierten. Auch ihre Lebensform ist Schnee von gestern.

Eines Tages verschwand Wayne spurlos. Im Jetzt von 1994 verschwendet kein Mensch mehr einen Gedanken an den Mysteriösen.

„Das ist er im Grunde gewesen, der Mann fürs Leben - ein Mann ohne Sorgen - der mir alles geben würde, was ich mir wünsche, mit ihm würde ich mich immer lebendig fühlen, ich hätte meinen Platz in der Welt. … eigentlich sprudelt in mir ein Quell der Unbeschwertheit … ich will Leidenschaft und Liebe und Abenteuer.“ Katherine Mansfield

Gunda dockt behutsam an, am Ende eines durchsichtig-langwierigen Manövers. Goya drückt sie zustimmend an sich. Er weiß, was von ihm erwartet wird, und er hat nichts dagegen.

Um ihn nicht zu sympathisch zu zeichnen. Goya führt Buch. Gunda ist die … Eroberin des reichsten Schwachkopfs im Gebiet seit Goyas Aufstieg aus der Klasse der Unberührbaren in die erste Kreisliga.