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2022-12-22 08:10:26, Jamal

„Wenn einen das Schicksal der Ukraine kalt lässt, dann stimmt etwas nicht mit einem.“ Niall Ferguson „über die Lust am Untergang, das Versagen des Westens in der Ukraine-Politik und die Gefahr eines Atomkriegs“ in einem Interview am 15. Dezember in der Süddeutschen Zeitung  

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„Selbst die Hauptstraßen jener Tage würden heute als Waldwege gelten.“ Tim Blanning über viele Verkehrswege auch noch im 18. Jahrhundert

Konfessioneller Pluralismus

Im Rahmen der Westfälischen Friedensordnung von 1648 stellt man etwas Neues fest: den „konfessionellen Pluralismus“ - als einer der zentralen europäischen Geschichtslinien. Bis dahin wähnten sich die Katholiken auf dem Weg zur absoluten Restauration und die Protestanten auf dem Weg zur weltweit durchgreifenden Reformation. Danach sind andere Konfliktmotive dynamischer. Eine weitere Generallinie ist der staatliche Hegemonialanspruch mit dem Gewaltmonopol als Leitstern und der Säkularisierung als einem flächendeckenden Zurückweisen kirchlicher Ansprüche.

Tim Blanning, „Glanz und Größe - Der Aufbruch Europas 1648 - 1815“, aus dem Englischen von Richard Barth, Jörn Pinnow, DVA, 49,-

Der säkulare Staat erzwingt die „Unterordnung der Kirche“ auf dem Weg zum Nationalismus - „einer weltlichen Religion“, so sagt es der Historiker. Ihr folgt das Phänomen Öffentlichkeit. Im Verein mit der Staatsräson und der Suprematie des Weltlichen bildet die öffentliche Meinung im 19. Jahrhundert ein Dreieck der Staatlichkeit, dass zur Zeit des Westfälischen Friedensschlusses nicht absehbar war. 

Blanning nennt die Indikatoren für eine Aufwärtsentwicklung: Handel, Produktion, Bevölkerungswachstum. Davon profitiert der feudale und spätfeudale Machthaber als Verkörperung des Staates an erster Stelle. Er versichert sich mit Streitkräften gegen alles Mögliche und so auch gegen das eigene Volk. Die größten bürgerlichen Nutznießer der Dynamiken im Zuge der industriellen Revolution sind englische Magnaten. Im Gegensatz zu ihren kontinentalen Konkurrenten hemmt sie weder eine Revolution noch ein Krieg im eigenen Land.

„Geografie ist Schicksal.“

Blanning bringt den landläufigen Begriff vom „Zeitalter der Vernunft aka Aufklärung“ kritisch ins Spiel. Er plädiert für eine Geschichtsbetrachtung im Geist der „dialektischen Wechselbeziehung von Gefühls- und Vernunftkultur“.   

Er exponiert die Bedeutung des Verkehrs für alle gesellschaftlichen und staatlichen Belange. Die Überlandverbindungen des 18. Jahrhunderts sind unbefestigte Staub- und Schlammpisten und im Weiteren oft ungeheure Umwege zum Vorteil privater Landeigner. Nach mehr als einem Jahrtausend der Vernachlässigung befinden sich auch die Straßen des römischen Imperiums in desaströsem Zustand. Brücken sind ein Thema für sich. Egal wo in Europa: kaum jemand kommt schneller voran als im Schritttempo. Wer es sich leisten kann, mit der (bis um 1800 ungefederten) Kutsche zu reisen, wird geschüttelt wie ein Würfel im Knobelbecher.

Bis ins 19. Jahrhundert bleibt das Reisen jenseits nomadischer Notdurft extrem teuer.

Blanning misst den Fortschritt an der Zunahme der Reisegeschwindigkeit. Rekordverdächtig sind die zwanzig Stundenkilometer, mit denen der Duc de Croÿ 1786 die Strecke von Calais nach Paris bewältigt. Dazu bald mehr.  

Zum Autor

Tim Blanning war bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politik- und Kulturgeschichte Europas im 18. und 19. Jahrhundert (u.a. »Das Alte Europa 1660 – 1789«, 2006). Dabei widmet er sich auch immer wieder deutschen Themen wie in seiner gefeierten Biografie »Friedrich der Große« (2018), wofür er u.a. mit der British Academy Medal ausgezeichnet wurde. Zuletzt ist von ihm bei C. Bertelsmann erschienen »Triumph der Musik. Von Bach bis Bono« (2010).

Aus der Ankündigung

Tim Blannings Geschichte Europas erstreckt sich vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Wiener Kongress und zeichnet detailliert, höchst unterhaltsam und mit großer erzählerischer Kraft das Bild eines Zeitalters in tiefgreifendem Wandel - wirtschaftshistorisch, machtpolitisch, kulturell, militärisch. Neben großen Persönlichkeiten wie Louis XIV., Friedrich II., Napoleon, Voltaire oder Newton und den Eliten an Europas Höfen kommen immer wieder auch die Alltagssorgen und Nöte der niederen Stände in den Blick, die sich schließlich in der Französischen Revolution Bahn brechen sollten. Die Leichtigkeit, mit der Blanning die Perspektive zwischen den Kulturen wechselt, und die Fülle der verarbeiteten Fakten weisen den Autor als Meister seines Fachs und einen der bedeutendsten Historiker unserer Zeit aus.