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2022-12-27 09:01:42, Jamal

Stoische Fassade

„Vorbild für die Figur (des Mai-Sachmes in Thomas Manns ‚Joseph und seine Brüder‘) war der Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert, ein Freund der Familie Mann … Von der großen Ruhe, die Gumpert ausgestrahlt haben muss und die Mai-Sachme von ihm bekommen hat, spricht auch Klaus Mann im 10. Kapitel seiner Autobiographie ‚Der Wendepunkt“.“ Aus Literaturlexikon Online, Quelle

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„Im Blick verrät sich eine Leidenschaft, von der die stoische Fassade sonst nichts merken ließe.“ Klaus Mann über Martin Gumpert

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„Sie verließ kaum je das Haus aus Angst, sie könne jemanden leiden sehen.“ Martin Gumpert über seine Großmutter

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„Gestern im Tempel der treuste der Wächter,/ Heute der Schänder am heiligsten Gut,/ Dennoch gewertet als Harter, Gerechter,/ Wehrlos gewappnet der Wut nur durch Blut.“ Martin Gumpert in seinem lyrischen Debüt „Verkettung“

 

Tornado des Untergangs

Geboren wird er im selben Jahr und in derselben Stadt wie Gershom Scholem. Der Arztsohn Martin Gumpert (1897 - 1955) zählt zu jener Abteilung des gehobenen Berliner Mittelstandesnachwuchses, die ihre kulturelle Prägung im Stimmungsspektrum zwischen Gründerzeit, Fin de siècle, Belle Époque, Art Déco und Expressionismus erhält. In der väterlichen Praxis geben sich eine kaiserliche Hofdame und Rosa Luxemburg die Klinke in die Hand. Auch Frank Wedekind konsultiert Dr. Ely Gumpert.

„Ich wurde ein schweigsames Kind. Es war keine Hemmung … Es war ein Entschluss.“

Kaum kann das Kind schreiben, wendet es sich in einem Brief direkt an den Kaiser. Es überspringt die Karl-May-Phase und liest gleich Nietzsche, Schopenhauer und Kant. In der beruflichen Sphäre des Vaters verkehrt es mit dem Gestus des Assistenten. Selbstverständlich nimmt es an ärztlichen Hausbesuchen teil. Im Weiteren stellt es Gott auf die Probe. Die Pubertät kommt dann über Gumpert „wie eine Krankheit“.

„So wurde ich mein erster Patient.“

Bei Gumperts feiert man Weihnachten und Pessach. Den elternhäuslichen Lebensstil konturieren säkulare Gepflogenheiten. In der Ära furios-moribunder Moritaten mit Morgue-Aspirationen verkehrt der Adoleszent im Café des Westens. Er publiziert unter Pseudonym in Franz Pfemferts Aktion so wie in dem unter anderem von Peter und Hans Kollwitz und Walter Benjamin edierten Periodikum Der Anfang. 1917 debütiert Gumpert im Leipziger Kurt Wolff Verlag mit Gedichten. Der Band heißt „Verkettung“. Das Motto lautet:

„Die Gedichte sind 1914 - 16 entstanden, sie gehören meinen toten Freunden.“

Eine Station auf der literarischen Existenzachse: Dereinst wird Gumpert zum Vorbild für die Figur des ägyptischen Arztes und Schreibers Mai-Sachme in Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ avancieren.

Den Ersten Weltkrieg erlebt der Sozialist und Pazifist in Kasernen und Lazaretten vor allem des Osmanischen Reiches. Er findet sich da wieder, wo „sich der Ruhm in Blut und Eiter und Verwesung (auflöst)“. Während der Sanitätssoldat eine mysteriöse Krankheit in einem Fleckfieberlazarett knapp überlebt, heiratet seine große Liebe einen anderen. Alice stirbt im letzten Kriegsjahr an der Spanischen Grippe. Gumpert hält die Grabrede.

Ulrike Keim, „Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten. Der Arzt, Dichter, Forscher und Schriftsteller Martin Gumpert“, Hentrich & Hentrich, 29,90 €  

1918 nimmt er an der Universität Berlin ein Medizinstudium auf. Er spezialisiert sich auf Dermatologie. Als Assistenzarzt am Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus heiratet er 1923 eine Kollegin; die Tochter des Sozialhygienikers und Dermatovenerologen Alfred Blaschko.     

„Für mich war die Medizin von Anfang an eine soziale Wissenschaft, eine Wissenschaft von der Gesellschaft.“  

1927 wird der im Wedding niedergelassene Sozialmediziner Vater. Ab 1928 leitet er eine Ambulanz zur Versorgung von Geschlechtskrankheiten. Mittellose Patientinnen und Patienten behandelt er kostenlos. Sein Engagement bestimmt einen Reformkurs, der sich bis heute auf das Gesundheitswesen auswirkt.

Der Rebell aus Mitgefühl agiert in „seelischer Opposition“. Seine Biografin schildert Gumpert als „stillen Visionär (und) … entschiedenen Kämpfer für Kranke, Arme, Randgruppen, Alte und Vergessene“. Der Arzt besucht „die Visionen der Hölle (von) Kindern, auf … die zuhause in der Einzimmerwohnung der Vergewaltiger (wartet)“. Die wahren Erreger der Syphilis sind für ihn „der Bodenwucher und die Bürokratie“. Gumpert gründet eine „Beratungsstelle für Entstellungskrankheiten“.

Gumpert sieht sich als Heilkünstler und Dichterarzt.  

Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung stirbt Gumperts Frau an Tuberkulose. In dem erstmals 1948 im Amsterdamer (deutschsprachigen) Querido Exilverlag erschienenen Roman „Der Geburtstag“ umreißt Gumpert den kommenden Totalverlust:

„Kerzen und Kuchen, Verständnis und Verwöhnung, bis das Nest in Flammen aufging und der Totentanz Europas begann … ein Tornado des Untergangs …“

Ab 1933 praktiziert Gumpert nicht mehr. Er verlegt sich ganz auf die Literatur. Zwei Jahre später erfolgt der Ausschluss aus dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller. 1936 emigriert Gumpert nach New York. Er startet noch einmal durch, entschlossen, in der Neuen Welt nicht bloß sein Dasein zu fristen. Der humanistisch Gebildete paukt Englisch, eröffnet eine Praxis, erschließt sich (und begründet zugleich) ein neues Fachgebiet - die Geriatrie. Er reüssiert als Autor populär-wissenschaftlicher Ratgeber. Man nimmt ihn als Medizinjournalisten und dann auch als Herausgeber eines Magazins wahr.

Gumpert begegnet den Geschwistern Mann und deren Eltern. Er verliebt sich in Erika M.

„Leiser Visionär“

Ulrike Keim erzählt Gumperts Lebensgeschichte in ebenso anschaulicher wie unterhaltsamer Weise. Die Autorin beginnt mit dem Schlusspunkt, den ihr Held gezwungenermaßen in Deutschland setzt. Im Frühjahr 1936 überquerte Gumpert die belgische Grenze bei Aachen. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Martin Gumpert wurde 1897 in Berlin geboren und verstarb 1955 in New York. Er war Arzt, Dichter und Schriftsteller in Personalunion, Augenzeuge seiner Zeit, Forscher, Sozialarzt und ein leiser Kämpfer für ein besseres Leben und das Glück der Menschen.   Sein diagnostischer Blick als Arzt, seine menschliche Güte und Wärme, sein gesellschaftspolitisches Engagement, sein Eintreten für Menschen am Rande der Gesellschaft und seine ärztliche Ethik machen ihn zu einem Vorbild für eine menschliche Medizin. Seine Bücher über historische Persönlichkeiten vor seiner Vertreibung als Jude aus Deutschland, seine ergreifenden Gedichte, sein Wirken auf zwei Kontinenten, seine Freundschaft mit berühmten und einflussreichen Menschen wie Thomas Mann, seine Liebesbeziehung zu Erika Mann, der Tochter des Nobelpreisträgers, lassen ihn zu einer spannenden zeitgeschichtlichen, medizinischen und literarischen Person des 20. Jahrhunderts werden. Ulrike Keim zeichnet sein außergewöhnliches Leben zwischen Literatur und Medizin von Berlin-Tiergarten bis zur Park Avenue in New York nach.  Mit einem Geleitwort von Florian G. Mildenberger.

Zur Autorin

Ulrike Keim ist promovierte Ärztin für Innere Medizin, Naturheilverfahren und Homöopathie und Verfasserin zahlreicher medizinischer Bücher und Publikationen. Ihr Herz schlägt aber nicht nur für die Medizin, sondern durch ihr Germanistikstudium insbesondere auch für die Literaturwissenschaft. Als Master in „Komplementärer Medizin-Kulturwissenschaft-Heilkunde“ befasst sie sich heute schwerpunktmäßig mit Kulturwissenschaften und Medizin.