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2022-12-29 07:38:46, Jamal

„Es war ein Twist im Schlangennest der Familienbeziehungen.“ Hans Mayer über den Bruch Frédéric Chopins mit Georges Sand.

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„Am Abend hatte ich zehn Verse gemacht und eine Flasche Schnaps getrunken; sie (George Sand) hatte einen Liter Milch getrunken und ein halbes Buch geschrieben.“ Alfred de Musset

Musischer Feldherr

Befreundet und liiert war sie mit Alfred de Musset, Frédéric Chopin, Prosper Mérimée, Franz Liszt, Honoré de Balzac, Eugène Delacroix, Gustave Flaubert und einem Dumas.

Hans Mayer vergleicht George Sand mit Rahel Varnhagen, die in ihrem Berliner Salon „den doppelten Skandal der jüdischen Herkunft und weiblichen Emanzipation überspielen (musste)“. 

Ihr Urgroßvater zählte zur Riege der unehelichen Söhne von August dem Starken, dem Kurfürsten von Sachsen und König von Polen. Moritz von Sachsen (1696 - 1750) glänzte als „Maréchal de Saxe“ in französischen Diensten. Er war ein musischer Feldherr mit philosophischen Neigungen. Eine uneheliche, als Marie-Aurore de Saxe legitimierte Tochter, heiratete erst einen Grafen und dann einen reichen Greis, der sich nach einer angemessenen Zeugungsfrist in sein Grab zurückzog. 1793 erwarb die solvente Witwe jenen Landsitz in Nohant-Vic, der als Maison de George Sand historisch wurde.

Hans Mayer, „Außenseiter“, Suhrkamp

Eine durchsetzungsfähige aristokratische Illegitimität verteidigte das biografische Zepter der höchst produktiven Schriftstellerin Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, besser bekannt als George Sand. Im Abendrot des Ancien Régime verband sich die Respektabilität mit „depravierter Halbwelt“.

Hans Mayer betrachtet eine - der Französischen Revolution geschuldeten - Permeabilität zwischen Oberschicht und Unterwelt. Er exponiert George Sands „widersprüchliche Herkunft zwischen europäischem Hochadel und Pariser Plebejertum“. Ihre Mutter Sophie Delaborde verbüßte eine Gefängnisstrafe. Die Tochter einer Gefallenen wächst bei der begüterten Großmutter als höhere Enkelin auf. Achtzehnjährig heiratet sie den gleichfalls illegitimen Baron François Casimir Dudevant. Der Sohn einer Kellnerin und eines nobilitierten napoleonischen Offiziers ignoriert das Genie seiner Frau.

„Die Ehe zerfällt rasch.“

Dynamischer Rückschritt

Bei George Sand erscheinen Abweichungen lediglich als „Pikanterien“. Die Baronin beginnt eine literarische Produktion für den Hausgebrauch. Sie startet sich im Sog der bourbonischen Restauration, die in einem „prekären Bürgerkönigtum“ mündet. Die unvollendete Revolution und ein dynamischer Rückschritt sorgen für phantastische Verhältnisse. Aurore Dudevant gehört gleichermaßen „zum Adel und zum Volk, nicht (aber zur herrschenden) Bourgeoisie“.

Mayer modelliert Aurore Dudevants Außenseitertum als Freiheitschance. Die Schriftstellerin schildert das unverbindliche Arrangement ihrer Ehe freimütig in Briefen. Der Gatte geht sie nichts an. Sie müsste ihn verachten, wäre sie nicht unabhängig.

„Ich stehe auf, wenn er zu Bett geht … Alles ist allein meine Sache.“

Sie beginnt eine Affäre mit dem sieben Jahre jüngeren Jules Sandeau. Gemeinsam publiziert das Paar 1831 den Roman Rose et Blanche unter dem Pseudonym Jules Sand. Aurore Dudevants Tochter Solange trägt den Ehenamen ihrer Mutter lediglich zur Wahrung des Scheins. Eine Scheidung macht den Skandal perfekt. Mayer vermisst den toxischen Stachel bürgerlicher Ächtung angesichts unerfüllter Kontributionen. Aurore Dudevants englische Kollegin George Eliot sprengt eine „wilde Ehe“ aus dem gesellschaftlichen Rahmen. Dazu gleich mehr. Die Französin behält ihre Gesellschaftsfähigkeit. Dabei entpuppt sie sich als der Schriftsteller George Sand.

„Dieser Schriftsteller ist ein Er.“

Charles Baudelaire nennt George Sand eine „Spießerin der Unmoral“. Er unterstellt ihr die Urteilstiefe einer Gardienne. Darüber würde ich kein Wort verlieren, wäre es nicht Baudelaire, der, so erklärt es Mayer, „die Dialektik von Skandal und bourgeoiser Gleichschaltung im Fall Georg Sand“ aufdeckt.

Nachtrag

„Die Lebensgeschichte von George Eliot liest sich wie ein Roman von George Eliot.“ Hans Mayer

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„Nie vergaß (George Eliot) … ihr selbstgeschaffenes Selbst.“ Eliza Lynn Linton

In einer frühen Analyse der englischen Klassengesellschaft (Culture and Anarchy) bezeichnet Matthew Arnold die Herrschenden seiner Zeit als „Barbaren“. Arnold unterscheidet sie nach einem schlichten Schema. Es gibt „schwerfällige“ und „gelöste“ Barbaren. Die einen lieben hoheitliche -, die anderen sportliche Auszeichnungen.

Das bürgerliche Lager kommt bei Arnold nicht besser weg. In einem Klima bigotter Beschränktheit existieren Jahrhundertschriftstellerinnen wie George Sand und George Eliot stets auf einer Schwelle zum Eklat. Bei George Eliot zeigt sich das auch an den vielen Namen, die sie für sich verwendet. Ihren Durchmarsch zum Ruhm beginnt sie nach der dritten Umbenennung als Marian Evans. Marian Evans Lewes wagt eine freie Verbindung mit dem verheirateten Kollegen George Henry Lewes. Siehe „Die Physiologie des täglichen Lebens“. Die amtliche Gattin toleriert das Arrangement. Das Paar lebt vorübergehend in Weimar. Unter dem Pseudonym George Eliot verschafft sich Marian Evans literarischen Weltruf. Sie stirbt gediegen als Mary Ann Cross.  

Aus der Ankündigung

Vom »Denkparadox« und der zugleich geschichtlichen Realität ausgehend, »daß die Anerkennung von Lebensrecht und Würde der existentiellen Außenseiter am besten in jener Ära gesichert war, da adlige Aufklärer unter dem Ancien Régime die bürgerlichen Forderungen vertraten«, entdeckt Mayer das Scheitern des Bürgertums im Versuch, das Unvereinbare zu verbinden: die Forderung nach Sicherung bourgeoiser Herrschaft mit der nach freier individueller Verwirklichung – wie außenseiterisch sich diese als existentiell veranlagte Normabweichung auch ausnehme. Richtet sich Mayers Blick vom historisch Erfahrenen auch wieder nach vorn, fordert er die Fortsetzung von »ihren bürgerlichen und geschichtlichen Ursprüngen abgelöster« Aufklärung als der »permanenten Revolution«, so doch in erklärter Gegenstellung zu einem abstrakt bemühten Utopismus allgemein-gesellschaftlicher Emphase, in der Hinwendung zum letztlich maßgebenden Bedürfnis und Anspruch des Einzelnen. Das Buch entwickelt seine Problematik beispielhaft und zentral an der Stellung bürgerlicher Gesellschaft und ihrer Literatur zur Frau, zu gleichgeschlechtlicher Liebe und Judentum. Es gelingt ihm deren darstellerische Bewältigung aus stupender Belesenheit und in methodischer Schmiegsamkeit.

Zum Autor

Der Wissenschaftler, Kulturkritiker und Schriftsteller wurde am 19. März 1907 in Köln geboren. Er studierte Jura, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und Berlin. Als Jude verfolgt, war er von 1933 bis 1945 in der Emigration in Frankreich und in der Schweiz. Von 1948 bis 1963 lehrte er Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig. Zwischen 1965 und 1973 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Technischen Universität Hannover. Danach lebte er als Honorarprofessor in Tübingen.

1935, im Exil, begann er mit den Vorarbeiten für sein großes Werk über Georg Büchner; ohne Zuspruch von Carl J. Burckhardt wäre das Opus magnum nicht beendet worden. 1972 erschien eine Neuausgabe im Suhrkamp Verlag. 40 Titel von ihm sind seitdem in »seinem« Verlag publiziert worden, darunter Bücher über Goethe und Brecht, Thomas Mann und Richard Wagner; der letzte in diesen Tagen: »Erinnerungen an Willy Brandt«. Bundeskanzler Schröder drückte darüber brieflich noch seine Hochachtung aus.

Hans Mayer war ein Lehrer für uns Deutsche. Ein Wissenschaftler, der mitten im Stalinismus Autoren wie Kafka, Proust, Joyce und Bloch verteidigte, der, wo immer in der Welt er lehrte, Literatur befragte, ob sie geeignet sei, Humanität zu befördern. Ein Gelehrter zwischen den Fronten, dessen wichtigste Werke nicht zufällig den Unbotmäßigen und »Außenseitern« gelten. Seine Erinnerungen waren Erinnerungen eines »Deutschen auf Widerruf«. Die Beschwörungen eines anderen Deutschland bereiteten neuen Kräften wie Uwe Johnson den Weg.

Hans Mayer ist Ehrenbürger der Städte Köln und Leipzig, Ehrendoktor der Universitäten in Brüssel, Wisconsin und Leipzig, Ehrenprofessor der Universität Peking, Träger des »Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland«.

Hans Mayer, Nestor der deutschen Literaturwissenschaft, starb am Sonnabend,
dem 19. Mai 2001, im Alter von 94 Jahren in Tübingen.