Die schwache Beweiskraft des Körperlichen
Mit Horst Brasch, der nach England exiliert war, teilte er das Schicksal der „falschen Emigration“. Stefan Heym kam aus dem großen Amerika in die kleine DDR. Da belebte er den sozialistischen Realismus mit Hollywood-Stilmitteln. Er spielte in der Brecht-Liga, geschützt von einem Idealismus, der ihm ständig Gründe gab, auf seiner unergründlichen Linie zu bleiben. Heym war weder Dissident noch SED-Sprachrohr. Was ihm die realsozialistische Ernüchterung nahm, holte er sich aus der Bibel zurück.
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Don Juan im Sozialismus
Ein Mann will verreisen. Das kündigt er an. Gustav trifft seine Vorbereitungen in aller Umständlichkeit. Seine Frau Katja informiert ihren Liebhaber Jacques. Sie trägt ihm eben auch die sturmfreie Bude einer Strohwitwe als Ort der Verheißung in absehbarer Zeit an. Gewissenhaft erscheint der Backdoor Man zum Stelldichein. Man entspricht der Vereinbarung. Plötzlich meldet sich Gatte Gustav zurück. Er hat den Regenschirm vergessen, das Malheur auf dem Bahnhof bemerkt und sich zu einem Blitzbesuch daheim entschlossen. Überstürzt sperrt Katja Jacques in den Schlafzimmerschrank. Der Gefangene beweist seine Bürgerlichkeit, indem er in seiner Lage ein Klischee erkennt, dessen Original theatralischer Natur ist. Jacques spielt auf das Boulevard Theater an, er räsoniert nach Kräften.
Stefan Heym, „Gesammelte Erzählungen“, btb, 619 Seiten, 10,-
Die Binse als Schenkelklopfer
Mottenkugeln „beizen seine Schleimhäute“, während er eine klassische Komödienrolle gleichermaßen verkörpert und reflektiert. Allerdings geht ihm unterdessen allmählich die Luft aus.
Am Aufbau des Schwanks erkennt man seine Gebundenheit. Stefan Heym setzte die Kleinigkeit unter den Titel „Männliche Gedanken“. Die Wurffreiheit, die - der Schreibschwung eines Vormittags, der - von einer Limitierung nichts weiß, veröffentlicht sich selbst wie mit Großbuchstaben.
Auch im Sozialismus wird fremdgegangen - die Binse als Schenkelklopfer, ohne ideologischen Mehrwert, vielleicht als bourgeoiser Nachtragshaushalt: zweifellos schrieb Heym ermächtigt von der Idee einer vermeintlichen Zeitlosigkeit des Stoffs.
Ein moribundes Ich deutet der von seinen politischen Vorstellungen in die Enge getriebene, von Haus aus weltläufige Autor als Don Juan im Sozialismus. Am alten Schwerenöter bleibt selten nur noch eine neugierige Genossin kurz hängen. Was daran wahr bleibt, die Routinen des Ehebruchs, die schwache Beweiskraft des Körperlichen, ist das Uninteressante. Interessant allein ist der im Permafrost des Textes vereiste Augenblick. Der ahnungslose Gustav verkehrt aufgeräumt mit seiner Gattin. Die vergessene Sache gibt ihm Gelegenheit, Katja seine Liebe spüren zu lassen. Der Zug ist eh weg. Es fährt aber noch einer an diesem Abend, es bleibt Zeit, sich vom Eheglück infizieren zu lassen.
Der Mann im Schrank verliert seine Bedeutung im Aufrauschen des Legitimen. Seine eben noch beinah burleske Lage verdüstert sich. Nebenbei, ich will das nicht unterschlagen, erkennt der zum Hornochsen heruntergestufte Nebenbuhler sein geringes Interesse an der Hausfrau. Nichts lohnt die Not, in die er sich leichten Herzens manövriert hat.
Jacques befindet sich in Dantes „dritter Gegend“ zwischen Himmel und Hölle. In der Göttlichen Komödie propagiert Dante „eine Jenseitsreise, die durch eine dritte Gegend führt. Hatten schon antike Autoren von Unterweltvisiten und Sky Trips berichtet, präsentiert Dante sich als jener Magellan der Verdammnis, „der eine jenseitige Mittelwelt - eine ausgedehnte Halbhölle mit Sicht auf bessere Tage in der Ewigkeit - durchquerte. Deren … (Sandwichposition) zwischen … Höllenschwarz und … Paradiesweiß ergibt sich, indem sie von der Hölle die Torturen, vom Himmel das sichere Vorgefühl der Befreiung ausleiht“. Die theologische Sensation war der dritte Ort, purgatorium (zu Deutsch ‚Fegefeuer‘) genannt. Nach Peter Sloterdijk, „Wer noch kein Grau gedacht hat: Eine Farbenlehre“.
Aus der Ankündigung
Diese Zusammenstellung der Erzählungen von Stefan Heym gibt einen repräsentativen Querschnitt durch ein einzigartiges Schriftstellerleben. Wie kaum ein anderer musste Heym Unrecht, diktatorische Gewaltanmaßung und Verfolgung erleben. Er floh vor den Nazis, vor McCarthy, und auch in der DDR war er den Machthabern immer unbehaglich. Die Erzählungen geben allein durch die Orte, an denen sie entstanden sind, ein Abbild seiner Biographie. Sie zeugen zudem von der Entwicklung des Autors Heym, eines Sich-Vergewisserns der schriftstellerischen Mittel. Und nicht zuletzt ist in seinen Texten der menschliche Blick jenseits ideologischer Gewissheiten Diese Zusammenstellung der Erzählungen von Stefan Heym spiegeln ein einzigartiges Schriftstellerleben. Wie kaum ein anderer musste Heym Unrecht, diktatorische Gewaltanmaßung eigen, den Heym sich allen Widrigkeiten zum Trotz bewahrt hat.
Diese Ausgabe wurde um die bisher unveröffentlichten Erzählungen »Bericht über eine Literaturkonferenz« und »Der Urenkel« erweitert.
Zum Autor
Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte über Prag in die USA, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt.1994 eröffnete er als Alterspräsident mit einem engagierten Plädoyer für Toleranz den deutschen Bundestag. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 während einer Vortragsreise in Israel.