Ulrike Keim erzählt Martin Gumperts Lebensgeschichte in ebenso anschaulicher wie unterhaltsamer Weise. Die Autorin beginnt mit dem Schlusspunkt, den ihr Held gezwungenermaßen in Deutschland setzte. Im Frühjahr 1936 überquerte Gumpert die belgische Grenze bei Aachen.
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„Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“ Rudolf Virchow
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„Ein Arzt, der seinen Patienten nicht in dessen eigenem Heim gesehen hat, weiß recht wenig über ihn.“ Martin Gumpert über die Zustände im Wedding der 1920er Jahre
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„In dem schwierigen … Vorgang der Auswanderung war Thomas Mann für uns die erlösende moralische Kraft.“ Martin Gumpert 1945 anlässlich Thomas Manns siebzigsten Geburtstag
Berliner Geniekreise
Früh verkehrt er in Berliner Geniekreisen. Schweigend* behauptet der Fünfzehnjährige seinen Platz am „Franz Pfemfert-Tisch“ im Café des Westens.
*„Ich wurde ein schweigsames Kind. Es war keine Hemmung … Es war ein Entschluss.“
Die „expressionistischen Leuchttürme“ Jakob van Hoddis, Max Brod und Johannes R. Becher lassen Martin Gumpert (1897 - 1955) gelten. Der Debütant publiziert unter dem Pseudonym Grünling. Er ist der jüngste Autor eines Periodikums, dessen Redaktion im Haus von Käthe Kollwitz zusammenkommt. Zu den Herausgebern des Anfangs zählen die Kollwitz-Söhne Hans und Peter, Gustav Wyneken, Walter Benjamin, Georg Gretor (aka Georges Barbizon) und Siegfried Bernfeld.
Der Anfang kursierte ursprünglich als Schülerzeitung. Im Vorkriegsjahr nimmt er die Gestalt eines Organs der erwachsenen Gegenöffentlichkeit an und erscheint in Pfemferts Verlag „Die Aktion“.
Der Sohn eines Arztes entscheidet sich für das Fach des Vaters und erklärt die Entscheidung mit den besonderen Umständen des Ersten Weltkriegs.
„Vermutlich hätte ich unter normalen Umständen nicht Medizin, sondern Literaturgeschichte studiert.“
Ulrike Keim, „Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten. Der Arzt, Dichter, Forscher und Schriftsteller Martin Gumpert“, Hentrich & Hentrich, 29,90 €
Bevor Gumpert sein Studium aufnehmen kann, muss der „überzeugte Pazifist“ seinen Wehrdienst leisten. Er wird für tropentauglich befunden und nach Konstantinopel abkommandiert. Da führt eine fingierte Blinddarmentzündung zu einer echten Operation. Der Rekonvaleszent entdeckt auf seinen Spaziergängen Verhungerte, Gehenkte und in Ketten Geschlagene. Er macht die Bekanntschaft mit einem Korrespondenten der Frankfurter Zeitung. Paul Weitz informierte die deutsche Regierung über den Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern. Im Pera Palace erklärt Weitz dem Sanitätssoldaten Gumpert die Lage. Gemeinsam beobachten sie einen der Hauptinitiatoren des Genozids bei einer Hauptbeschäftigung. Der Marineminister und Chirurg Cemal Pascha unterzeichnet Todesurteile, während er - mit einem gepriesenen Ausblick auf den Bosporus - seinen Mokka in einem Hotel der Compagnie Internationale des Wagons-Lits nimmt. Passagiere des Orient-Expresses steigen im Pera Palace ab. Der Prachtbau stammt von dem Architekten Alexandre Vallaury.
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In seiner medizingeschichtlichen Promotion beschäftigt sich Gumpert 1923 mit dem Ursprung der Syphilis. Ihn interessieren „die gesellschaftlichen und kulturellen“ Implikationen von Krankheiten. Für den Dermatologen „ist die Medizin auch eine Kulturwissenschaft“. Er analysiert Wirkungen von „Mythos, Märchen und Aberglauben“.
„Hunger, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Schmutz“ - Politisch zuhause fühlt sich Gumpert im roten, massiv überbevölkerten Wedding. „Siebenundsiebzig Prozent“ der Berliner Arbeiterinnenkinder haben kein eigenes Bett. Verschläge gehen als Wohnungen durch. Nach Schätzungen des städtischen Gesundheitsamtes leiden vor Ort eine Million Menschen an Geschlechtskrankheiten. Gumpert interpretiert den Notstand als Gesellschaftssymptom. Im Rudolf-Virchow-Krankenhaus übernimmt er die Leitung „der Station für Kinder mit Geschlechtskrankheiten“. Die Behebung der Wohnungsnot erklärt er zur entscheidenden Aufgabe. Dazu publiziert er. Gumpert referiert vor Expert:innen. Er wähnt sich in einem „Kleinkrieg“ gegen „Wucherer und Bürokraten“.
Tornado des Untergangs - Erster Teil meiner Besprechung
„Vorbild für die Figur (des Mai-Sachmes in Thomas Manns ‚Joseph und seine Brüder‘) war der Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert, ein Freund der Familie Mann … Von der großen Ruhe, die Gumpert ausgestrahlt haben muss und die Mai-Sachme von ihm bekommen hat, spricht auch Klaus Mann im 10. Kapitel seiner Autobiographie ‚Der Wendepunkt“.“ Aus Literaturlexikon Online, Quelle
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„Im Blick verrät sich eine Leidenschaft, von der die stoische Fassade sonst nichts merken ließe.“ Klaus Mann über Martin Gumpert
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„Sie verließ kaum je das Haus aus Angst, sie könne jemanden leiden sehen.“ Martin Gumpert über seine Großmutter
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„Gestern im Tempel der treuste der Wächter,/ Heute der Schänder am heiligsten Gut,/ Dennoch gewertet als Harter, Gerechter,/ Wehrlos gewappnet der Wut nur durch Blut.“ Martin Gumpert in seinem lyrischen Debüt „Verkettung“
Tornado des Untergangs
Geboren wird er im selben Jahr und in derselben Stadt wie Gershom Scholem. Der Arztsohn Martin Gumpert zählt zu jener Abteilung des gehobenen Berliner Mittelstandesnachwuchses, die ihre kulturelle Prägung im Stimmungsspektrum zwischen Gründerzeit, Fin de siècle, Belle Époque, Art Déco und Expressionismus erhält. In der väterlichen Praxis geben sich eine kaiserliche Hofdame und Rosa Luxemburg die Klinke in die Hand. Auch Frank Wedekind konsultiert Dr. Ely Gumpert.
Kaum kann das Kind schreiben, wendet es sich in einem Brief direkt an den Kaiser. Es überspringt die Karl-May-Phase und liest gleich Nietzsche, Schopenhauer und Kant. In der beruflichen Sphäre des Vaters verkehrt es mit dem Gestus des Assistenten. Selbstverständlich nimmt es an ärztlichen Hausbesuchen teil. Im Weiteren stellt es Gott auf die Probe. Die Pubertät kommt dann über Gumpert „wie eine Krankheit“.
„So wurde ich mein erster Patient.“
Bei Gumperts feiert man Weihnachten und Pessach. Den elternhäuslichen Lebensstil konturieren säkulare Gepflogenheiten. In der Ära furios-moribunder Moritaten mit Morgue-Aspirationen verkehrt der Adoleszent im Café des Westens. Er publiziert unter Pseudonym in Franz Pfemferts Aktion so wie in dem unter anderem von Peter und Hans Kollwitz und Walter Benjamin edierten Periodikum Der Anfang. 1917 debütiert Gumpert im Leipziger Kurt Wolff Verlag mit Gedichten. Der Band heißt „Verkettung“. Das Motto lautet:
„Die Gedichte sind 1914 - 16 entstanden, sie gehören meinen toten Freunden.“
Eine Station auf der literarischen Existenzachse: Dereinst wird Gumpert zum Vorbild für die Figur des ägyptischen Arztes und Schreibers Mai-Sachme in Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ avancieren.
Den Ersten Weltkrieg erlebt der Sozialist und Pazifist in Kasernen und Lazaretten vor allem des Osmanischen Reiches. Er findet sich da wieder, wo „sich der Ruhm in Blut und Eiter und Verwesung (auflöst)“. Während der Sanitätssoldat eine mysteriöse Krankheit in einem Fleckfieberlazarett knapp überlebt, heiratet seine große Liebe einen anderen. Alice stirbt im letzten Kriegsjahr an der Spanischen Grippe. Gumpert hält die Grabrede.
1918 nimmt er an der Universität Berlin ein Medizinstudium auf. Er spezialisiert sich auf Dermatologie. Als Assistenzarzt am Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus heiratet er 1923 eine Kollegin; die Tochter des Sozialhygienikers und Dermatovenerologen Alfred Blaschko.
„Für mich war die Medizin von Anfang an eine soziale Wissenschaft, eine Wissenschaft von der Gesellschaft.“
1927 wird der im Wedding niedergelassene Sozialmediziner Vater. Ab 1928 leitet er eine Ambulanz zur Versorgung von Geschlechtskrankheiten. Mittellose Patientinnen und Patienten behandelt er kostenlos. Sein Engagement bestimmt einen Reformkurs, der sich bis heute auf das Gesundheitswesen auswirkt.
Der Rebell aus Mitgefühl agiert in „seelischer Opposition“. Seine Biografin schildert Gumpert als „stillen Visionär (und) … entschiedenen Kämpfer für Kranke, Arme, Randgruppen, Alte und Vergessene“. Der Arzt besucht „die Visionen der Hölle (von) Kindern, auf … die zuhause in der Einzimmerwohnung der Vergewaltiger (wartet)“. Die wahren Erreger der Syphilis sind für ihn „der Bodenwucher und die Bürokratie“. Gumpert gründet eine „Beratungsstelle für Entstellungskrankheiten“.
Gumpert sieht sich als Heilkünstler und Dichterarzt.
Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung stirbt Gumperts Frau an Tuberkulose. In dem erstmals 1948 im Amsterdamer (deutschsprachigen) Querido Exilverlag erschienenen Roman „Der Geburtstag“ umreißt Gumpert den kommenden Totalverlust:
„Kerzen und Kuchen, Verständnis und Verwöhnung, bis das Nest in Flammen aufging und der Totentanz Europas begann … ein Tornado des Untergangs …“
Ab 1933 praktiziert Gumpert nicht mehr. Er verlegt sich ganz auf die Literatur. Zwei Jahre später erfolgt der Ausschluss aus dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller. 1936 emigriert Gumpert nach New York. Er startet noch einmal durch, entschlossen, in der Neuen Welt nicht bloß sein Dasein zu fristen. Der humanistisch Gebildete paukt Englisch, eröffnet eine Praxis, erschließt sich (und begründet zugleich) ein neues Fachgebiet - die Geriatrie. Er reüssiert als Autor populär-wissenschaftlicher Ratgeber. Man nimmt ihn als Medizinjournalisten und dann auch als Herausgeber eines Magazins wahr.
Gumpert begegnet den Geschwistern Mann und deren Eltern. Er verliebt sich in Erika M.
Aus der Ankündigung
Martin Gumpert wurde 1897 in Berlin geboren und verstarb 1955 in New York. Er war Arzt, Dichter und Schriftsteller in Personalunion, Augenzeuge seiner Zeit, Forscher, Sozialarzt und ein leiser Kämpfer für ein besseres Leben und das Glück der Menschen. Sein diagnostischer Blick als Arzt, seine menschliche Güte und Wärme, sein gesellschaftspolitisches Engagement, sein Eintreten für Menschen am Rande der Gesellschaft und seine ärztliche Ethik machen ihn zu einem Vorbild für eine menschliche Medizin. Seine Bücher über historische Persönlichkeiten vor seiner Vertreibung als Jude aus Deutschland, seine ergreifenden Gedichte, sein Wirken auf zwei Kontinenten, seine Freundschaft mit berühmten und einflussreichen Menschen wie Thomas Mann, seine Liebesbeziehung zu Erika Mann, der Tochter des Nobelpreisträgers, lassen ihn zu einer spannenden zeitgeschichtlichen, medizinischen und literarischen Person des 20. Jahrhunderts werden. Ulrike Keim zeichnet sein außergewöhnliches Leben zwischen Literatur und Medizin von Berlin-Tiergarten bis zur Park Avenue in New York nach. Mit einem Geleitwort von Florian G. Mildenberger.
Zur Autorin
Ulrike Keim ist promovierte Ärztin für Innere Medizin, Naturheilverfahren und Homöopathie und Verfasserin zahlreicher medizinischer Bücher und Publikationen. Ihr Herz schlägt aber nicht nur für die Medizin, sondern durch ihr Germanistikstudium insbesondere auch für die Literaturwissenschaft. Als Master in „Komplementärer Medizin-Kulturwissenschaft-Heilkunde“ befasst sie sich heute schwerpunktmäßig mit Kulturwissenschaften und Medizin.