Der Spielplatz der Götter als Schauplatz eines Krieges - Der erste Teil meiner Besprechung - Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4402
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„Und überall Felder, Sonne, Leichen.“ Eine ukrainische Impression aus dem Jahr 1920 von Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, Hanser
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„Die Menschen in Deutschland und im gesamten Westen haben die Demokratie geerbt. Sie sind nur noch Konsumenten demokratischer Werte.“ Oleksandra Matwijtschuk, Quelle
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„Wenn Russland uns okkupieren möchte, muss es uns erst umbringen.“ Olha Zhurba, Quelle
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„Das alte Sprichwort, das Generäle einen neuen Krieg so planen, wie sie den vorherigen geführt haben, hat sich dieses Jahr bewahrheitet. Die russischen Angreifer in der Ukraine erwarteten, das Land vorzufinden, das sie 2014 angegriffen hatten, aber sie trafen auf ein ganz anderes.“ Serhii Plokhy, „Das Tor Europas“
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„Wenn etwas den Unterschied in diesem Krieg ausmacht, dann ist es keine Waffe. Es sind die Ukrainer. Ihr Widerstandsgeist.“ Reinhard Müller in der FAZ vom 18.09. 2022, Quelle
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„Die Ukraine verteidigt sich. Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen: Dass Charkiw, Mykolajiw und Odessa noch immer in ukrainischer Hand sind und es dort keine Filtrationslager und Massengräber gibt, ist nicht der russländischen Gesprächsbereitschaft zu verdanken, sondern unserer Kampfbereitschaft und Widerstandsfähigkeit.“ Serhij Zhadan in der ZEIT am 06.07. 2022, Quelle
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„Deutschland hat verstanden, dass die Ukraine die europäischen Werte mit ukrainischen Leben verteidigt und dass es an der Zeit ist, dass sie dies auch mit europäischen Waffen tut.“ Wladimir Klitschko in seiner Antwort auf den Brief der 28. Aus der FAZ vom 03.05. 2022, Quelle
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„Die Krim mit ihren Hammelfleischklößen und Minaretten ist schon an sich ein verführerisches Objekt für kinematografische Überfälle.“ Ossip Mandelstam, „Gespräch über Dante, Gesammelte Essays II 1925-1935“, Ammann Verlag 1991
Wie hältst du es mit der Ukraine?
Das Zukunftsdesign der EU sowie der NATO gestalten Gesellschaften, die nach dem Ende des Warschauer Pakts ihre Unabhängigkeit erlangten. Sie verstehen nicht, weshalb der alte Westen auf den Ohren sitzt. Im Mai 2022 fand die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Irina Wereschtschuk deutliche Worte: „Warum wurde Nord Stream 2 gebaut, warum haben sie nicht auf Polen, die Ukraine, Litauen, Estland gehört, die Länder, die Sie gewarnt haben, dass es bei Gas und Öl für Putin um Politik geht, nicht um Wirtschaft?“ Die ukrainische Regierung habe immer davor gewarnt, dass Putin Deutschland „manipulieren“ würde. Aus der WELT vom 04.05. 2022, Quelle
„Man muss sich entscheiden: Entweder man kapituliert, oder man wehrt sich“, erklärte Egidijus Papečkys. „Wir werden uns auf jeden Fall wehren, denn wir wissen, dass die Verluste so oder so die gleichen sein werden.“ Aus der FAZ vom 12.03.2022, Quelle
Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj gelang es, die Frage Wie hältst du es mit der Ukraine? zur Gretchenfrage zu machen. Dies gewiss in der Konsequenz und mit der Dynamik schrecklicher Erfahrungen. 2014 fehlte die Anteilnahme. Die Amputationsschmerzen der ihrer Krim beraubten Ukraine verhallten ungehört. Ungestört trieb Putin das koloniale Projekt einer unumkehrbaren Abhängigkeit europäischer Staaten von russischer Energie voran.
Die westeuropäischen Sanktionen nach der Krim-Annexion entsprachen bei Weitem nicht dem Verwerfungsniveau, das die Ukraine verminderte. Frankreichs Präsident Macron und andere Staatschefs erachteten Putin weiterhin als regulären Spieler auf der Staatschefebene.
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Serhii Plokhy liefert in seiner Analyse zunächst einen historischen Abriss. Er beginnt mit Herodot. Der Geschichtsschreiber erfasste „das Gebiet der heutigen Ukraine im Wesentlichen (als) eine Grenzregion, wo die griechische Zivilisation auf ihr barbarisches Alter Ego traf“. Allgemein hielten die Griechen das Land nördlich des Schwarzen Meeres für einen „Spielplatz der Götter“.
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Die Ukraine als Hauptschauplatz eines weitgehend vergessenen Krieges. Als Diarist und sowjetisch-akkreditierter Berichterstatter schildert Isaak Babel 1920 eine geschundene und verschlissene Bevölkerung in einem zugrunde gerichteten Land. Das hätte ich im Januar 2022 noch anders gelesen. Der aktuelle Krieg illustriert ...
Der Spielplatz der Götter als Schauplatz eines Krieges
Im Juni 1920 startet Isaak Babel (1894 - 1940) seine Odyssee durch die zerschlagene Ukraine. Als sowjetischer Berichterstatter im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919 - 1921) reist er zunächst von Odessa (Babels Geburtsstadt) nach Žitomir (Originalschreibweise). Gebräuchlich ist Schytomyr.
Russische Restauration, polnischer Imperialismus, Klassenkampf der Bolschewiki - Zur politischen Großwetterlage von 1920
In den Stadien der nie offiziell erklärten Auseinandersetzung werden einzelne Ergebnisse des Ersten Weltkriegs konsolidiert, andere aufgehoben. Die mit (imperialen Erwartungen verknüpften) polnischen Raumgewinne unter Marschall Józef Piłsudski sind flüchtig.
Für Rzeczpospolita stirbt man seit Jahrhunderten.
Die sowjetische Idee von der permanenten Revolution übersteht den Elchtest der Realität so wenig wie der zaristische Trotz der Weißgardisten unter Anton Iwanowitsch Denikin.
Als Piłsudskis und Denikins Gegenspieler verewigt sich der unglücklich agierende Befehlshaber der kommunistischen Kavallerie Semjon Budjonny. Ideologische Welten liegen zwischen den Anführern. Doch eint sie der Antisemitismus. Es sieht so aus, als seien verfeindete Parteien gemeinsam an Pogromen beteiligt gewesen.
Im Juni 1920 steht Piłsudski im Zenit. Polnische Truppen konnten Wilna, die Stadt seiner Jugend, und Minsk erobern. Gerade schicken sie sich an, Lemberg und Chełm, kurz ganz Galizien, einzunehmen. Babel badet im Teteriv (Originalschreibweise) und beobachtet idyllische Uferszenen mit Wäscherinnen.
Schytomyr nennt er eine „verstummte Stadt“. Die „alte Architektur“ der Synagogen überwältigt den Betrachter.
In einem aus den Beständen des weißrussischen Generals Denikin erbeuteten Thornycroft fährt Babel weiter nach Novograd. Er kommt kaum je aus seinen Klamotten. Er streift den Schaum seines Begehrens, so als stünde der Auftrieb unter Kuratel. Neben einem Lichtblick bemerkt Babel tausend Lügen.
Er beschreibt ruchloses Requirieren, das Aufstöbern versteckter Lebensmittel, und den amtlichen Hohn der Beschlagnahmungen. Ein Bauer zeigt einen Haufen Quittungen.
Babel unterscheidet zwischen halbstädtisch-sauberen tschechischen Dörfern und weniger ordentlichen Einheiten. Mich erinnert das an eine zeitlich in den Rahmen passende Schilderung von Alexander Solschenizyn.
Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibt Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.
„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“
Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.
Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen.
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Einen bolschewistisch gewendeten Ortsvorsteher bezeichnet Babel als „gewesenen Menschen“ und als „Aristokratenratte“.
Babel registriert die „unglaubliche Müdigkeit der Einheiten, darüber, dass die heftigen Attacken unserer Brigaden nicht die früheren Ergebnisse zeitigen, ununterbrochene Kämpfe seit …“
Er rückt an Semyon Timoshenko heran. Der Divisionskommandeur aus der lange bildbestimmenden, von Stalin durchgängig gestützten Kavallerie-Clique um Budjonny und Kliment Jefremowitsch Woroschilow zählt zu jenen, die sowohl mit als auch gegen Nestor Machno gekämpft haben. Der ukrainische Anarchist und seine Schwarze Armee aka Machnowschtschina wechseln ihre Verbündeten so wie der König von Navarra seine Religion wählte.
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Timošenko (Originalschreibweise) „ist … eine farbige Figur. Ein Koloss, rote halblederne Hosen, rote Mütze, gut gebaut“. Babel schildert einen Haudegen. Die rote Reiterarmee rückt wie ein Körper vor.
Budjonny war Stalins Pferdeflüsterer
Budjonny hat gerade seinen historischen Augenblick. Er versemmelt ihn als scheiternder Rittmeister. Er wird auch im Zweiten Weltkrieg nicht zu den Kriegern mit Fortune aufrücken. Trotzdem fällt er nie in Ungnade. Stalin liebt den Kosaken.
Aus dem Spiegel vom 28.04. 1969:
„In Moskau aber erwartete der Diktator das Symbol des Sieges - so Stalin über Schukow. Ob er eigentlich das Reiten verlernt habe, fragte ihn Stalin, als sich Schukow bei ihm am 19. Juni meldete, Schukow verneinte. Stalin: Gut, Sie werden die Siegesparade abnehmen. Ich rate ihnen, nehmen Sie den Schimmel, den Ihnen Budjonny zeigen wird.
Schukow soll sich zunächst gesträubt haben, aber drei Minuten vor zehn Uhr am 24. Juni 1945 ritt er auf dem Roten Platz unter den Klängen von Glinkas Gloria-Marsch der Feier des Sieges entgegen - seines Sieges.“
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In den 1930er Jahren geriet Isaak Babel (1894 - 1940) in das Mahlwerk der stalinistischen Säuberungen. Seiner Hinrichtung voraus gingen geheimpolizeiliche Konfiszierungen. Sie mündeten in der Vernichtung von Aufzeichnungen im Spektrum zwischen erzählender Prosa und Tagebucheintragungen. Durch die Maschen der Barbarei fielen Konvolute, die sich nicht im Besitz des Autors befanden. So erhielt sich ein Tagebuchfragment aus dem Jahr 1920. Übrigens wurde es in Kiew gesichert.
Zitate aus Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, übersetzt von Bettina Kaibach, Peter Urban, Hanser, 35,-
Aus der Ankündigung
Die Ukraine ein Land ohne eigene Geschichte? Der ukrainische Historiker von Weltrang Serhii Plokhy zeigt, wie mannigfaltig und dramatisch die Historie dieses Landes zwischen Europa und dem Osten ist. Nichts könnte derzeit aktueller sein. Mit dem Ukraine-Krieg hat eine neue Zeitrechnung in Europa begonnen. Im Kern geht es in dem Konflikt um die Geschichtsdeutung eines riesigen Landes, das jahrhundertelang Zankapfel der Großmächte war: Es gilt als Wiege der Russen und war mythischer Ort für die alten Griechen, Wikinger und Mongolen beherrschten das heute Staatsgebiet ebenso wie Österreich-Ungarn, Polen und die Sowjets, die erst mit dem „Holodomor“, dem grausamen Aushungern der Bevölkerung, den ukrainischen Widerstand brechen konnten. Dass die Ukrainer ein Volk mit eigener Sprache, Tradition und Geschichte sind, zeigt der Harvard-Professor Serhii Plokhy so deutlich wie fundiert und eloquent. Das Tor Europas ist das vielleicht wichtigste Buch zum Verständnis der Hintergründe des aktuellen Konflikts. Es zeigt, wie die Ukraine zum Spielball zwischen Ost und West wurde und dennoch stets seine eigene Identität bewahrte.
Zum Autor
Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.
Aus der Ankündigung
„Immer wieder ist es ein Glück Isaak Babel zu lesen.“ Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung
Isaak Babel ist ein hinreißender Erzähler von Weltrang; menschenfreundlich und liebenswürdig, und doch auf unbestechliche Weise der Wahrheit verpflichtet. Er wurde in finstere Zeiten hineingeboren, geprägt von Kriegen, politischen Umstürzen und antisemitischer Verfolgung. Diesen setzte er ein Werk entgegen, das durch seine menschliche Aufrichtigkeit und seinen künstlerischen Rang besticht. Die hier versammelten Dramen, Drehbücher, Reiseberichte, Erzählungen und sein Tagebuch von 1920 beschreiben Isaak Babels Weg vom gefeierten Autor der „Reiterarmee“ bis zu seinem Ende unter Stalins Terror. Eine zeitlos bewegende Lektüre.
Zum Autor
Isaak Babel (1894 –1940) wuchs in Odessa auf und zog 1920 mit der Roten Kavallerie des Generals Budjonnyj als Reporter in den Russisch-Polnischen Krieg. Mit dem 1926 veröffentlichten Erzählband „Die Reiterarmee“ wurde er zum gefeierten Schriftsteller; dem stalinistischen Terror entkam er dennoch nicht. 1940 wurde er als Staatsfeind erschossen, 1954 rehabilitiert. Bei Hanser erschien „Mein Taubenschlag“ (Sämtliche Erzählungen, 2014).