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2023-01-05 08:42:04, Jamal

„Eine große Krise sollte man niemals ungenutzt vorüberziehen lassen.“ Winston Churchill

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“When a man says I cannot, he has made a suggestion to himself. He has weakened the power of accomplishing that which otherwise would have been accomplished.” Muhammad Ali

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„Sicherheit ist ein trügerisches Konzept.“ Paul Bowles

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„Natürlich wollen wir, dass die Ukraine gewinnt. Wir sind Ukrainer.“ Olga Rudenko in der Süddeutschen Zeitung, Quelle

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„Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten.“  Konstantin Ziolkowski

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Hieronymus Bosch ist schon Verkümmerung, sagt Heiner Müller dem Sinn nach. Das Groteske verjüngt das Blickfeld. Im Karnevalesken revoltiert die Volkskultur gegen die Autorität von Staat und Tod.

Am Strand von Ahrenshoop 2020 © Jamal Tuschick

Der Flaneur als Flüchtling

Platanen stehen Spalier auf meiner Fahrt zur Ariège. Hinter Perpignan überquere ich die Grenze und halte erst in Portbou, Walter Benjamins Endstation.  

In Giovanni Vergas Roman „Die Malavoglia“ beleben die Titelheldinnen und -helden einen ionisch-sizilianischen Flecken mit Ausblick auf die zerklüfteten Isole dei Ciclopi. Den Familiensitz kennzeichnet ein Mispelbaum im Vorgarten. Wie ein heraldisches Motiv taucht das Wahrzeichen in der örtlichen Legende als Synonym für die Malavoglia auf. Will man an einem von ihnen kratzen, strapaziert man ein zur Metapher geronnenes Bild aus dem kulturellen Gedächtnis der Einheimischen. Darin droht ein Sturm dem Baum mit Entwurzelung. Die Naturgewalt hört auf den Namen Tramontana.

Ich reise unter Ausläufern der Tramontana. Walter Benjamin zählte zu jenen, die, geführt von Lisa Fittko, und ausgehend von Banyuls-sur-Mer, die Pyrenäen auf einer Route querten, die heute als Chemin Walter Benjamin ausgeschildert ist. Der Saumpfad führt via Cerbère nach Portbou, wo sich Benjamin (sehr wahrscheinlich) das Leben nahm. Ich bedenke die alpinistische Anstrengung, die dem Tod voranging. Wieder frage ich mich, warum Benjamin nicht das Weite in Amerika suchte, so wie Gretel Karplus, die Theodor W. Adorno auf dem Weg in die Vereinigten Staaten 1937 heiratete, oder nach Palästina auswanderte, so wie Benjamins hellsichtiger Freund Gershom Scholem. 

Lisa Fittko erklärte dem herzkranken Benjamin:

„Aber sind Sie sich darüber im Klaren, dass ich kein erfahrener Führer in dieser Gegend bin? Ich kenne den Weg eigentlich gar nicht, ich selbst bin noch nie dort oben gewesen. Was ich habe, ist ein Stück Papier mit einer Wegskizze, die der Bürgermeister aus dem Gedächtnis gezeichnet hat.“ Quelle

Lisa Fittko registrierte die außerordentliche Höflichkeit des Schriftstellers.  

„Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte ich. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungsloser Tollpatsch.“ Lisa Fittko, Quelle

Benjamin, der für sein Leben gern rauchte, hatte das Rauchen in der Gefangenschaft aufgegeben. Die Entwöhnung führte ihn an seine Grenzen. In dem Abstinenzexzess ertrug er die Widrigkeiten eines Alltags, für den er weniger zu taugen schien als jede(r) andere. Das geringste praktische Tun überforderte ihn. Er rebellierte gegen die eigene Untüchtigkeit, indem er sich auf seiner Flucht, sich alles versagend, zum Boten seines letzten Manuskripts machte.  

Lisa und Hans Fittko führten 1940/41 über dreihundert Menschen über die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien.

Da sind zwei Passagen. Ein Übergang quert den Coll de Rumpissar aka Ruta Líster (nach General Enrique Líster); der andere den Coll dels Belitres - Pass der Schurken. 1938/39 nutzten Republikaner die historisch ausgetretenen Schmugglerrouten in die entgegengesetzte Richtung, nachdem die Hoffnung auf Freiheit zu Grabe getragen worden war. Im Februar Neununddreißig strömten und strandeten massenhaft Kombattantinnen und Kombattanten der weggebrochenen katalonischen Front (26. Abteilung) nach/in Südfrankreich. Viele wurden aufgegriffen und interniert im langen Winter der Anarchie. Der tragische Vorgang kursiert im kulturellen Gedächtnis als Retirada. Für die rechtsgerichtete französische Regierung war dieser Rückzug eine „Massenflucht (exode massif) der Unerwünschten. - Les réfugiés espagnols en 1939, des indésirables“. Quelle

Als Benjamin im September 1940 seinen zweiten Fluchtversuch unternahm, blockierten französische Schergen im Auftrag der Gestapo den Coll dels Belitres. Lisa Fittko führte Benjamin über die ihr selbst noch unbekannte Ruta Líster.

Zu den Personen, die dem Schriftsteller das Leben zur Hölle machten, zählte der in der Bundesrepublik unbehelligt ergraute und vergreiste Legationsrat Ernst Kundt (1883 - 1974). Anfang der 1940er Jahre stand er einer Kommission vor, die seinen Namen trug. Er fahndete federführend nach deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten in südfranzösischen Internierungslagern, um sie der Vernichtungsmaschinerie zuzuführen. Ferner organisierte er die Überwachung der Fluchtrouten nach Spanien. Seinem Befehl gehorchend, patrouillierten gardes mobiles „schwer bewacht“, so Lisa Fittko in ihren Aufzeichnungen, auf den Passagen in die Freiheit. Die Einheiten waren im 19. Jahrhundert als Hilfstruppe der Armee gegründet worden. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs dienten sie - nach einem Abkommen im Rahmen des Waffenstillstands von Compiègne (am 22. Juni 1940) - kollaborierenden Mannschaften und Offizieren als Auffangbecken.

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Wildschwein esse ich, wo alle nach Fisch rufen. Das Fleisch schmeckt nach Honig und Nüssen. Der Koch kommt mit Sol y Sombra an meinen Tisch. Es stellt sich heraus, dass ihm das Lokal gehört. Hinter ihm liegen Jahre auf deutschen Baustellen. Er sagt etwas Freundliches über die Deutschen. Ich vernehme ein altes Befremden. Ich glaube nicht, dass er mich für einen Deutschen hält. In seiner Welt ist man, was der Vater war. Lustvoll redet er über landwirtschaftliche Wildhaltung. Am Ende der Nacht tage ich mit ihm in seiner Küche. Er grillt Secreto, einen zwischen Schweinerücken und Rückenspeck versteckten Muskel.  

Wochen später wieder in Deutschland - Verweigerte Anstrengung

Nach einem Unfall erwacht einer aus dem Koma und erkennt seine Mutter nicht mehr. Er hält die Fürsorgliche an seinem Bett für eine Doppelgängerin der Verwandten. Das Orientierungsdesaster heißt Capgras-Syndrom. So Erkrankte verkennen ihre Liebsten. Jiménez tut so, als sei ich ausgetauscht worden, und sie zu smart, um auf die Täuschung hereinzufallen. Im Ruhrgebiet erreichen wir eine Tagesstätte mit neunzig Prozent ausländischen Kindern. Nach meinen Begriffen sind die Kinder keine Ausländerinnen, vielmehr im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ethnisch differente Deutsche.  
Es ist doch völlig verkehrt, in so einer Tagesstätte das Lied von den zehn kleinen Deutschen (in einer Unterwelt der Überfremdung) anzustimmen.  
Katja, die Leiterin, fragt: „Wen soll ich denn hier integrieren?“ 
Jiménez sofort: „Es soll nicht integriert werden. Wir wollen Deutschland sämtlichen Kulturen öffnen.“ 
„Was heißt das? Türkisch als Unterrichtssprache für alle?“ 
Jiménez funkelt Katja an. Da erdreistest sich eine.      
Ich recherchiere für die Frankfurter Rundschau. Katja versteht das als Gelegenheit, ihre Erfahrungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie wirkt weder resigniert noch überfordert, Jiménez hält Katjas Sachlichkeit nicht aus. Sie provoziert. Katja lässt sich nicht provozieren. 
„Alles, was ich in meiner Ausbildung gelernt habe, kann ich hier vergessen.“ 
Katja erklärt ihre Methode. Die Erzieherinnen deuten auf eine Tasse oder eine Puppe, benennen den Gegenstand, wiederholen das Wort. Ich sehe mir die Mühsal eines langen Vormittags an, Jiménez verweigert die Anstrengung. Von einer Zigarettenpause kehrt sie nicht zurück.  
Katja wirft mir vor: „Sie kennen die Basis nicht. Sie machen aus der Migration ein Märchen. Wir produzieren Ausgeschlossene ohne Zukunft.“ 

Die meisten Kinder sprechen kaum Deutsch. Sie beherrschen die Sprache der Eltern nicht deutlich besser. Sprachliche Verkümmerung auf der ganzen Linie, von wegen Chancen doppelter kultureller Auswahl.  

Amnesien der Wiedervereinigung

Wir logieren bei sozialistischen Schwestern. Das Haus gehört zu einem Ensemble der Industriemoderne. Eine gestorbene Zeche bietet sich als Panoramaprunkstück an. Jiménez verschanzt sich in einem Zimmer, während Tagungsgäste eintreffen. „Migration als trans-lokale Herausforderung“ - elf Stunden „Einwanderung und Stadtentwicklung“. Es gibt einen akademischen Zug zur Unversöhnlichkeit. Gefordert werden kooperative Nachbarschaften. In der Mehrheitsgesellschaft setzen sich kooperative Nachbarschaften dem Verdacht freiwilliger Isolation aus. Für die Liebhaberinnen von direkten Aktionen klingt kooperative Nachbarschaft verheißungsvoll. Man will nicht nur Häuser, sondern Gebiete besetzen. Freiräume erobern. Territorien schaffen. Am besten mit eigener Flagge und Währung.  

„Das ist die Flucht ins Reservat“, kontere ich. Isolation ist Rückzug. Ist Selbst-Marginalisierung. Die Desintegration in den Milieus der Einwanderinnen hängt zusammen mit dem Umbau der SPD und der Gewerkschaften. Im Zuge eines globalen Industriestrukturwandels verlieren diese Motoren ihre Kraft als Integrationsmaschinen. In die preisgegebenen Räume stoßen Systeme der Selbstorganisation wie Milli Görüs. Islamische Gemeinden setzen der Straße etwas entgegen, sie schaffen Anreizstrukturen. Sie betonen ihre Distanz zur Mehrheitsgesellschaft. Integrationsstrategien geraten in Verruf. Dafür sorgt die Kulturalisierung sozialer Konflikte zwischen Nachrückenden und Eingesessenen. Man deklariert normalen städtischen Streit als Kulturkonflikte. Erst die Ethnisierung gestattet eine Dramatisierung, in der Deutsche unterschiedslos Christen sind, und Türken Muslime. 

Eine Ethnologin spricht über die Inszenierung von kultureller Differenz. Wie beim Karneval der Kulturen. Sie bewertet den Karneval als Einladung zur Selbst-Ethnisierung.

Es gibt die Beobachtung einer „Feminisierung“ des Islam. Angeblich gewinnen Frauen als Moderatorinnen Bedeutung in den Gemeinden.

Raus aus den Subkulturen, lautet meine Losung. Lasst uns mit Kirchenvätern reden. Holt den Bundeskanzler. Schafft den Außenminister her. Bringt uns den Kopf von Alfredo Garcia. Spitzenahnungslose mit Bundestagsmandat erklären die spannungsreiche Koexistenz verschiedener Kulturen auf deutschem Boden für gescheitert. Wir sagen: Deutschland kann an der Migration scheitern. Die Migration aber nicht an Deutschland. Sie findet einfach statt. Die Wahrnehmungsverschiebungen sind nicht zuletzt Amnesien der Wiedervereinigung. Zafer Şenocak wusste 1990, dass die sozialen Kosten der historischen Volte (auch) auf die eingewanderten Minderheiten abgewälzt werden würden. Zum Erbe der aufgelassenen Deutschen Demokratischen Republik gehöre, so Şenocak, „ein dezidiert fremdenfeindliches Element“, das im Großen und Ganzen der Berliner Republik Karriere gemacht hatte. Žarko Paić sagt: Der Rassismus hat sich vom einstigen Schwarz-Weiß-Konzept des Rassenhasses zu einem global anwendbaren kulturellen Paradigma entwickelt. Man hasst niemanden mehr aufgrund seiner Hautfarbe, sondern wegen seiner sich unterscheidenden kulturellen Zugehörigkeit. Die neofaschistische Rhetorik ist dem liberalen (reflexiven) Rassismus nicht fremd. Rassismus maskiert sich in der Gesellschaftsmitte mit Angst und Kritik vor/am Multikulturalismus. Wir sind da, wo die Aushöhlung widerständiger Impulse ständige Praxis ist. Die Kulturindustrie führt einen Typus zum Trog des Geschehen, der sich in der Warenaura immunisiert hat und in seinen Albträumen Hieronymus Bosch nachbetet. Bosch ist schon Verkümmerung, sagt Heiner Müller dem Sinn nach. Das Groteske verjüngt das Blickfeld. Im Karnevalesken revoltiert die Volkskultur gegen die Autorität von Staat und Tod.

Das Bodenpersonal der Globalisierung

Ich fliege nach Ljubljana. Im Becken der Stadt kriechen die Flüsse Save und Ljubljanica in ein Bett. Alpen falten sich über Ljubljana auf. Zu k.u.k.-Zeiten hieß die Stadt Laibach und war Garnison. Jason und die Argonauten hatten in dieser Gegend Donau und Save überquert, im Gepäck das Goldene Vlies. Im Marschland der legendären Flüsse bildeten Kelten und Römer eine gemeinsame Gesellschaft.

Auf den Boulevards paart sich Jugendstil mit Barock. Auf dem Vodnik-Platz versprechen The Temptations „magic motown moments“. Die Wege der Auswanderung kreuzen Pfade der Abschiebung. Längst hat das Bodenpersonal der Globalisierung transnationale Netzwerke geschaffen. Ich habe einen Tipp bekommen. Dazu bald mehr.