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2023-01-06 09:17:25, Jamal

„Eine jede neue Zeit ist … dunkel und widerwärtig.“ Bertolt Brecht

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„Diese Zeit ist voller Dramen. Alle Widersprüche kommen zugespitzt zum Vorschein. Wenn das hier (der Zweite Weltkrieg) vorbei ist, werden wir mehr Material haben als Shakespeare.“ BB

Von April 1940 bis Mai 1941 lebte Brecht in Finnland. Wichtige Werke entstanden da. Siehe „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, „Flüchtlingsgespräche“ und „Der Aufstieg des Arturo Ui“. Der Journalist Jarno Pennanen porträtierte den Edelexilanten für ein sozialdemokratisches Periodikum. Pennanen traf „einen Mann … voller angestauter Kraft“ in einem vom Christlichen Verein Junger Menschen betriebenen Hospiz in Helsinki. Brecht verkündet: „Ich kann nicht sein ohne Arbeit“. Dazu bald mehr.

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„Wir saßen im Hotelzimmer in Berlin, in der Nähe des Pariser Platzes, gegenüber die Fensterlöcher verbrannter Häuser.“  Carl Linfert über eine Begegnung mit Brecht am 22. April 1949

Berittene Dienstboten

Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert besorgten berittene Dienstboten die Post. Erst 1784 etablierte der Theaterimpresario John Palmer eine reguläre Postkutschenverbindung von Bristol nach London. Die englische Reisedurchschnittsgeschwindigkeit war doppelt so hoch wie die niederländische. Englische Reisende beklagten den Kontinentaltrott von drei km/h. Die Niederländer:innen nutzten vor allem Wasserwege. Im Rahmen des ersten planmäßigen Personen- und Güterverkehrs wurden Kähne von Pferden gezogen. Daraus ergab sich ein konkurrenzlos günstiger Linienbetrieb. Besonders bemerkenswert fand man Bordrestaurants. Die siebenundsechzig Kilometer von Passchendaele nach Brügge ließen sich bequem im Verlauf eines Tages zurücklegen. Heute bewältigen Sie die Strecke mit dem Fahrrad in knapp zweiundeinhalb Stunden.

Tim Blanning, „Glanz und Größe - Der Aufbruch Europas 1648 - 1815“, aus dem Englischen von Richard Barth, Jörn Pinnow, DVA, 49,-

Ein Pferd zog dreißig Tonnen Kahnfracht. Sechs Mann und vier Pferde bewegten mit einem Boot so viel Ladung wie 200 Mann und 400 Pferde über Land transportierten. Mit dieser Rechnung wartete der Festungsbaumeister Sebastien Le Prestre de Vauban (1633 - 1707) auf. Erst die Binnenschifffahrt machte den Handel mit „sperrigem Gut von geringem Wert“ rentabel.

Plötzlich lohnte sich der Fernhandel mit Kohle und Getreide. Die Abbau- und Ernteregionen verloren ihren logistisch-limitierenden Charakter.

Noch determinierten natürliche Verläufe das Geschäft. Achtunddreißig Jahre bauten französische Unterprivilegierte an einem Kanal zwischen Loire und Seine. Das der Verbesserung geschuldete Verkehrsaufkommen schrie nach Ergänzungen, die sich nicht auf die lange Bank schieben ließen. Der Zeitdruck wuchs mit jeder kreatürlichen Verkürzung einer Spanne. In dem neuen Produktions- und Distributionsnetzwerk prosperierten Gegenden, die zuvor von überregionalen Erzeugnissen komplett abgeschnitten waren.

Der Canal du Midi verband ab 1681 den Atlantik mit dem Mittelmeer. Voltaire rühmte den Bau als „Glanzleistung“. Noch hundert Jahre nach seiner Fertigstellung erschien er revolutionär.

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Nicht erst die Industrialisierung brachte den Menschen in Zeitnot. Bereits der Postkutschenverkehr zwang die Nutzerinnen und Nutzer dazu, „in so kurzen Einheiten wie Minuten zu denken“. Der „Qualitätssprung bei den Postdienstleistungen“ bildete die Grundlage sagenhafter Vermögen sowie einer Beschleunigung bei der Zustellung, die heutige Kurierdienste übertraf. In London entstand in illegaler Konkurrenz zum königlichen Postmonopol die Penny Post, die im großen Maßstab zügigere Abwicklungen garantierte als wir heute für möglich halten.

In Mode kam die Briefschreibmanie als einem Genre aus der Abteilung Gelegenheit macht Diebe. Madame de Sévigné sandte 1700 Nachrichten an ihre Tochter. Horace Walpole, der 4. Earl of Orford, korrespondierte vierundvierzig Jahre mit einer Person, ohne sie einmal persönlich zu treffen. Zweifellos förderte der reibungslose Postdienst die sentimentale Mitteilung. Goethe gab Thurn und Taxis eine Teilschuld an massenhafter Schwulstverbreitung.   

Rekordverdächtige Reisegeschwindigkeit

„Wer etwas über die Welt lernen will, sollte nach Holland reisen.“ Eine Redensweise des 17. Jahrhunderts

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„Selbst die Hauptstraßen jener Tage würden heute als Waldwege gelten.“ Tim Blanning über viele Verkehrswege auch noch im 18. Jahrhundert 

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„Die Zeit arbeitender und fleißiger Männer (ist) der wichtigste heimische Rohstoff jeden Landes.“ William Temple 1670

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„Überfahrt (von Dover) nach Calais; 14 Stunden zum Nachdenken in einem Vehikel, das einem keinerlei Chance zum Nachdenken lässt.“ Arthur Young 1789

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Wir erzählen uns die Geschichte Europas als eine Geschichte des Fortschritts mit den Schlagworten Vernunft und Aufklärung. Der Historiker Tim Blanning spezifiziert das Register. Der „konfessionelle Pluralismus“, die Säkularisierung, die „weltliche Religion“ Nationalismus, die öffentliche Meinung und das Verkehrswesen dynamisierten bildbestimmende Entwicklungen. 

Zur Zunahme der Reisegeschwindigkeit

Rekordverdächtig waren die zwanzig km/h, mit denen der Duc de Croÿ 1786 die 280 Kilometer von Calais nach Paris bewältigte. Bemerkenswert erschien den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eine alltäglich-stabile Verbindung zwischen London und Bath ab 1800.

Französische Straßenbauingenieure trugen schmucke Uniformen zum Zeichen ihrer Relevanz. In seinem Roman Columnella spricht Richard Graves von „der Kunst des Transports“. Im Ruhestand bemerkt der Titelheld die Verbesserung des Verkehrs seit seiner Jugend. John Byng wollte Straßen „umpflügen“, da auf ihnen „Londoner Manieren importiert“ wurden. Der Namensvetter eines Admirals, der wegen Erfolglosigkeit erschossen worden war, beklagte, dass Milchmädchen sich wie Städterinnen herausputzten, seit man auf dem Land wusste, wie es in der Kapitale zuging. Byng zitierte den irischen Arzt und Autor Oliver Goldsmith, der den Untergang ländlicher Idyllen infolge der industriellen Revolution 1770 in dem Abgesang The Deserted Village beschworen hatte. Die Kräfte der Modernisierung zersetzten die rurale Ordnung und trieben die Landbevölkerung „in die Arme städtischer Gesetzlosigkeit und Laster“.

Zoll- und Mautposten boten sich den Illegalen als neue Gelegenheiten. Die Verbrecher verhielten sich zu den Inhabern der Mautprivilegien wie der Bankräuber nach Brecht zur Bank: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

„Die Erfahrung muss lehren, ob es sich der Mühe lohnt, Reisen, die in einem allgemein bekannten Buch stehen, noch einmal abdrucken zu lassen.“ Quelle

Wegelagerer überfielen Reisende. Aufgespießte Köpfe dienten fortan der Abschreckung. Privatkutschen avancierten zu Statussymbolen, „für die (in England) ab 1762 Steuern“ erhoben wurden.

Richard Twiss bereiste Portugal 1772. Am Mondego übernachtete er in einem Gasthaus, mit dem Kopf zum Fenster hinaus, um nicht am Rauch zu ersticken.

Es gab nur einen Raum und keinen Kamin.  

In Spanien registrierte Twiss gute Straßen nur da, wo sie dem royalen Residenzverkehr dienten. Der Mangel an merkantilem Kalkül fand kritische Resonanz beim Chevalier de Bourgoing. Der Historiker John Lynch konstatierte, es habe im 18. Jahrhundert überhaupt keine „spanische Volkswirtschaft (gegeben, nur) ein Archipel aus lokalen Produktions- und Konsuminseln“.

Basken kauften Getreide in Frankreich, obwohl in Kastilien die Ernten billiger waren. Miserable Transportrouten machten den Binnentransfer unrentabel.  

Phlegmatische Deutsche

Den landläufigen Trott erklärt sich mancher mit einem nationalen Phlegma. Gemächlichkeit stünde den Deutschen besser zu Gesicht als Tempo, behauptet Karl von Moser 1784. In sämtlichen preußischen Provinzen „westlich der Elbe“ gab es um 1816 nur dreihundert Straßenkilometer.

Ein Reisender des 18. Jahrhunderts überquerte den Ärmelkanal womöglich in fünf Stunden, allerdings nachdem er vier Tage auf in Calais „auf günstige Winde“ gewartet hatte. „Twiss wartete 1772 in Falmouth 18 Tage … bis das Paketschiff nach Lissabon in See (stach).“   

Allgemein herrschte ein „messianischer Zeitbegriff“ (Walter Benjamin). Blanning bezog sich auf Aaron Jakowlewitsch Gurewitsch, der feststellte, dass „an die Stelle einer zyklischen … Zeitwahrnehmung einer lineare trat“. Der „Pfeil der Zeit“ ersetzte das „Rad des Schicksals“. Das mittelalterische Mañana wich der Pünktlichkeit.

„Die Ankunfts- und Abfahrtszeit … wird so pünktlich eingehalten, dass (das Boot) beim Glockenschlag ablegt, ohne auf irgendjemanden zu warten.“ William Bromley 1702

Von Nantes nach Danzig dauerte im 18. Jahrhundert eine Schiffspassage im Schnitt einen Monat, konnte sich aber auch 150 Tage hinziehen.

In Frankreich verkehrten „Wasserkutschen“. Im Rahmen des ersten planmäßigen Personen- und Güternah- und Fernverkehrs zogen in den Niederlanden Pferde Personen- und Lastkähne über Flüsse und durch Kanäle. Daraus ergab sich im 16. Jahrhundert der erste „moderne“ Linienbetrieb. Besonders bemerkenswert waren Bordrestaurants auf Kähnen, die von vier Pferden gezogen wurden. Man verstand es, stabile und konkurrenzlos kostengünstige Bedingungen zu schaffen, die es Verkehrsteilnehmer:innen etwa erlaubten, die 67 Kilometer von Passchendaele nach Brügge im Verlauf eines Tages zurückzulegen. Heute bewältigen Sie die Strecke mit dem Fahrrad in knapp zweiundeinhalb Stunden. 

Konfessioneller Pluralismus

Im Rahmen der Westfälischen Friedensordnung von 1648 stellt man etwas Neues fest: den „konfessionellen Pluralismus“ - als einer der zentralen europäischen Geschichtslinien. Bis dahin wähnten sich die Katholiken auf dem Weg zur absoluten Restauration und die Protestanten auf dem Weg zur weltweit durchgreifenden Reformation. Danach sind andere Konfliktmotive dynamischer. Eine weitere Generallinie ist der staatliche Hegemonialanspruch mit dem Gewaltmonopol als Leitstern und der Säkularisierung als einem flächendeckenden Zurückweisen kirchlicher Ansprüche.

Der säkulare Staat erzwingt die „Unterordnung der Kirche“ auf dem Weg zum Nationalismus - „einer weltlichen Religion“, so sagt es der Historiker. Ihr folgt das Phänomen Öffentlichkeit. Im Verein mit der Staatsräson und der Suprematie des Weltlichen bildet die öffentliche Meinung im 19. Jahrhundert ein Dreieck der Staatlichkeit, dass zur Zeit des Westfälischen Friedensschlusses nicht absehbar war. 

Blanning nennt die Indikatoren für eine Aufwärtsentwicklung: Handel, Produktion, Bevölkerungswachstum. Davon profitiert der feudale und spätfeudale Machthaber als Verkörperung des Staates an erster Stelle. Er versichert sich mit Streitkräften gegen alles Mögliche und so auch gegen das eigene Volk. Die größten bürgerlichen Nutznießer der Dynamiken im Zuge der industriellen Revolution sind englische Magnaten. Im Gegensatz zu ihren kontinentalen Konkurrenten hemmt sie weder eine Revolution noch ein Krieg im eigenen Land.

„Geografie ist Schicksal.“

Blanning bringt den landläufigen Begriff vom „Zeitalter der Vernunft aka Aufklärung“ kritisch ins Spiel. Er plädiert für eine Geschichtsbetrachtung im Geist der „dialektischen Wechselbeziehung von Gefühls- und Vernunftkultur“.   

Er exponiert die Bedeutung des Verkehrs für alle gesellschaftlichen und staatlichen Belange. Die Überlandverbindungen des 18. Jahrhunderts sind unbefestigte Staub- und Schlammpisten und im Weiteren oft ungeheure Umwege zum Vorteil privater Landeigner. Nach mehr als einem Jahrtausend der Vernachlässigung befinden sich auch die Straßen des römischen Imperiums in desaströsem Zustand. Brücken sind ein Thema für sich. Egal wo in Europa: kaum jemand kommt schneller voran als im Schritttempo. Wer es sich leisten kann, mit der (bis um 1800 ungefederten) Kutsche zu reisen, wird geschüttelt wie ein Würfel im Knobelbecher.

Bis ins 19. Jahrhundert bleibt das Reisen jenseits nomadischer Notdurft extrem teuer.

Blanning misst den Fortschritt an der Zunahme der Reisegeschwindigkeit. Rekordverdächtig sind die zwanzig Stundenkilometer, mit denen der Duc de Croÿ 1786 die Strecke von Calais nach Paris bewältigt. Dazu bald mehr.  

Zum Autor

Tim Blanning war bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politik- und Kulturgeschichte Europas im 18. und 19. Jahrhundert (u.a. »Das Alte Europa 1660 – 1789«, 2006). Dabei widmet er sich auch immer wieder deutschen Themen wie in seiner gefeierten Biografie »Friedrich der Große« (2018), wofür er u.a. mit der British Academy Medal ausgezeichnet wurde. Zuletzt ist von ihm bei C. Bertelsmann erschienen »Triumph der Musik. Von Bach bis Bono« (2010).

Aus der Ankündigung

Tim Blannings Geschichte Europas erstreckt sich vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Wiener Kongress und zeichnet detailliert, höchst unterhaltsam und mit großer erzählerischer Kraft das Bild eines Zeitalters in tiefgreifendem Wandel - wirtschaftshistorisch, machtpolitisch, kulturell, militärisch. Neben großen Persönlichkeiten wie Louis XIV., Friedrich II., Napoleon, Voltaire oder Newton und den Eliten an Europas Höfen kommen immer wieder auch die Alltagssorgen und Nöte der niederen Stände in den Blick, die sich schließlich in der Französischen Revolution Bahn brechen sollten. Die Leichtigkeit, mit der Blanning die Perspektive zwischen den Kulturen wechselt, und die Fülle der verarbeiteten Fakten weisen den Autor als Meister seines Fachs und einen der bedeutendsten Historiker unserer Zeit aus.