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2023-01-21 08:09:57, Jamal

„Keine Privatschule und keine der großartigen britischen Universitäten hatten diese revolutionären Jungs hervorgebracht, sondern eine zerbombte Hafenstadt im Norden.“ Hanif Kureishi über die Beatles

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„Dass Männer von Talent viel leiden müssen in gesellschaftlichen Umwälzungen“. Goethe nach Grimm

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In den Flammen der Verzweiflung - Im Zuge der Reformation löste Landgraf Philipp der Großmütige das Zisterzienserkloster Haina auf und stellte die Anlage 1533 in den Dienst der Ärmsten und Irrsten unter uns Hess:innen. Philipp stiftete das „Hohe Hospital“ Haina und das Landeshospital Merxhausen (leider noch nach einem heteronormativ-binären Geschlechterverständnis).

© Jamal Tuschick

Im Superb der Orangerie

Beachtung verdient das landgräfliche Schloss allein wegen seiner Tapeten. Während der Westfälischen Zwischenregierung brannte der östliche Flügel ab. Uns untersteht jene geheime Kommission, die mit dem Neubau befasst ist.  

„Der Anfang dieses für die Ewigkeit berechneten Baues, welcher 552 Fuß lang, 402 Fuß breit ist und mit vierundachtzig Säulen geschmückt werden soll, wurde im Jahr 1815 nach dem Entwurf des Oberbaudirektors Jussow gemacht, indessen konnte das Werk wegen der Beschaffenheit des Terrains nicht schleuniger betrieben werden, als dass der Grundstein von dem hohen Erbauer am 27. Juni 1820 mittelst einer besonderen Feierlichkeit gelegt wurde, und kurz vor dem im darauffolgenden Jahre erfolgten Ableben S.K.H. das Erdgeschoß nebst einem Theil der ersten Etage fertig war.“

*Wir zitieren aus dem Handbuch zur Kurfürstlich Hessischen Hof- und Staatshaltung auf (auf - so steht es geschrieben) das Jahr 18.. Der Titel erschien im Verlag des reformierten Waisenhauses. Noch regt sich kein Widerstand gegen Kinderarbeit und Armenausbeutung. Schließlich hat Gott jeden an seinen Platz gestellt.

Wir bedauern den Abbruch der Kolonnade. Der Ingenieur Friedrich von S. sicherte Statuen in abgesegneter Heimlichkeit bei Nacht und Nebel. Man findet sie heute im Superb der Orangerie.

Bukolischer Auflauf/Protestantischer Fortschritt

Wir inspizieren den Marstall. Der Marstall steht schlossunmittelbar seit dem 16. Jahrhundert auf seinem Platz. Er steht da seither mit vier Flügeln. Die Flügel beherbergen zweihundert Pferde sowie eine Sattel- und Geschirrsammlung von europäischem Rang. Die Schönheit der kurfürstlichen Pferde treibt jede Kennerin mit dem Kopf gegen die Wand. Das Leibgespann S.K.H. von acht isabellfarbenen Hengsten löst Stampeden der Wollust aus.

Im Auftrag des Fürsten reiten wir zur Ostseite der Altstadt. Hin zieht es uns zur Unterneustadt. Die Fulda überqueren wir auf der Wilhelmsbrücke. Am schlechten Brückenende dient eine ehemalige Artilleriekaserne als Staatsgefängnis. S.K.H. ließ die Anlage mit Wall und Graben zum jetzigen Behufe von Spanndienstleister:innen aus der Leipziger Vorstadt einrichten. Wir passieren das Leipziger Tor in einem bukolischen Auflauf. Das Volk ergötzt sich auf einem Schwinger-Markt am Fliedersaum der Unterneustädter Kirche. Neben dem Sakralbau steht das Schildhaus des Leipziger Thors. Vis-à-vis stellt das Waisenhaus den Siechenhof in den Schatten. Wir eilen zu unseren Schmuddelkindern. S.K.H. verlangt viel von ihnen.

Wir setzen unsere Waisen an Baumwollspinner, geben ihnen eine Tasse heiß gekochter Suppe zum Frühstück und genießen so die volle Anerkennung aller Wohlfahrtsverbände. Unsere Schulmeister:innen und Seminarist:innen unterrichten das Gesindel an der Spindel.

Bereits 1761 wurde - im Geist des protestantischen Fortschritts und der Aufklärung - ein Accouchier- und Findelhaus eingerichtet. Nicht, dass ledige Frauen ihre Kinder straffrei in die Welt setzen können. Das Wohl der Schwangeren steht noch nicht zur Debatte. Vielmehr geht es um eine Verminderung der Säuglingsmorde.

Auf einer Agenda der Reformation steht die Ausbeutung der Arbeitskraft von Findel- und Waisenkindern.

Tagträumen und Verrücktspielen bei freier Kost und Logis. Bis zum Ende des katholischen Alleinvertretungsanspruchs entsprach dies einer ständigen Praxis. Evangelische Fürsten führten den Zwölfstundenarbeitstag für arbeitsfähige Bedürftige ein.    

Verstolperte Anfänge

Ohne eine dynastische Landesteilung im 16. Jahrhundert in der Verantwortung von Philipp dem Großmütigen (1504 - 1564) wäre Hessen, wie Preußen, ein europäisch durchgreifender Militärstaat geworden. Cassel glänzte vor Berlin.

Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg gewann Berlin das Renommee eines literaturfähigen Reiseziels. Von da an prägte sich das Berliner Weichbild als Brandenburger Wahrzeichen dem Selbstverständnis ein, mit dem über deutsche Fürstentümer gesprochen wird. Der Historiker Einar Graf Speer von Schauenburg bemerkt in seinen Aufzeichnungen Genese einer Kapitale verstolperte Anfänge und eine verschleppte Adoleszenz. Die Doppelstadt blieb Jahrhunderte ihren Jugendstilen verhaftet. So lange war sie weit davon entfernt, neben Cassel und Paris Geltung zu beanspruchen. Ihre Mutterstadt war Brandenburg (City), ihre Schwesterstadt Frankfurt/Oder. Geht man von der Referenzdynamik aus, erkennt man leicht, wie wenig prädestiniert Berlin für eine große Rolle war.

Die Mark existierte lange ohne Zentrum. In den Augen der Brandenburger Kurfürsten hatte Berlin keinen Vorrang. Die Stadt entwickelte sich in der Abwehr fürstlicher und geistlicher Ansprüche. Sie erwarb das Recht, durchfahrenden Kaufleuten Gebühren aufzudrücken. Sie stützte das Innungswesen. Schuster:innen und Bäcker:innen genossen das höchste Ansehen. Ein gemeinsamer Rat beider Städte legte dem urbanen Kern einen Speckgürtel an. Die Maßgeblichen kauften Rixdorf und Marienfelde.