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2023-01-22 09:17:02, Jamal

„Mittelmäßige ... verdienen nichts Besseres als Unsterblichkeit.“ Gary Shteyngart

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„Die ganze Literatur hängt mir kilometerweise zum Hals heraus und was ich wirklich möchte, ist Spazierengehen. Ich scheiß auf alles.“ Heinrich Böll

© Jamal Tuschick

Der ewige Hessenmeister

Ging der Gatte auf Reisen, legte Elisabeth von Thüringen Trauerkleider an. Der Alpenüberquerer Ludwig starb früh in einem maritimen Feldlager der Kreuzfahrer. Die Witwe zog von der Wartburg nach Marburg, während ihre Geschwister, die sie kaum kannte, Gipfelpositionen des europäischen Hochadels einnahmen. Ihr Bruder Béla wurde ungarischer König, ihre Schwester Maria Zarin von Bulgarien. Ihre Halbschwester Yolanda zeugte mit Jakob von Aragon eine charismatische, durch die Jahrhunderte populär gebliebene portugiesische Königin (Rainha Santa Isabel). Elisabeths Tochter - Sophie von Brabant - avancierte an der Lahn zur Stammmutter des Hauses Hessen. Sophies Sohn, Heinrich I. von Hessen (1244 - 1308), machte Kassel (Cassele) zu seiner Hauptstadt. Ihm lag daran, Karmeliter in Rufweite zu haben. Deren schlossnahe Platzierung datiert auf das Jahr 1262. Hermann zu Frankfurt (Francvordensis), Chef der Mainzer Karmeliter-Vikarie, bekundete, dass Prior Heinrich und die übrigen Karmeliterbrüder in Kassel einen Hof übernahmen - und zwar von dem als Vogt amtierenden Freiherrn Johann Riedesel. Er war der erste urkundliche Erwähnte seines Geschlechts. Johann veränderte sich in die Gegend von Melsungen. Sein Klan blieb in Kassel auf markante Weise präsent. Die Riedesel stellen seit 1432 den Erbmarschall zu Hessen. Sie waren Gründungsmitglieder der Althessische Ritterschaft (ab 1532). Bis auf den jüngsten Tag, den wir zum Zeitpunkt der Niederschrift überblicken, kümmert sich ein Riedesel im Vorstand um die Gemeinschaftsbelange.    

Die Karmeliter entrichteten so lange jährlich zu Martini und am Johannistag je fünf Mark, bis die hundert Mark hessischen Silbers aufgebracht waren, die Landgraf Heinrich für sie eingesetzt hatte. Aus ihrer fürstlichen Bindung ergibt sich der Nachteil, dass Kasseler Karmeliter und schließlich auch Karmeliterinnen kein landgräfliches Eigentum als Schenkung oder Vermächtnis annehmen dürfen. Ferner dürfen sie weltliche Bürger:innen der Kapitale außer zur Zeugnisabgabe nicht vor das geistliche Gericht bestellen.

Die Brüderkirche bestand von 1376 bis 1526 als Gotteshaus der Brüder des Ordens der heiligen Maria vom Berge Karmel. Die Reformation erzwang die Auflösung des Klosters, nicht aber der Kirche. Neben der Kanzel paradieren in Stein geschlagene Brustbilder unserer Stadtkommandanten. Die Orgel baute Georg Wilhelm Wilhelmi. Besonders gern spielen hörten die Kasseler:innen Johannes Becker (1726 - 1804). Wilhelm VIII. hatte ihn in Italien ausbilden lassen. Becker versah die Orgeln auch in der Martins- und in der Altstädter Kirche. Zur Frau nahm er eine Tochter des herrschaftlichen Papiermachers in der Papiermühle (Bappiermole) beym Messingshoff. Bis dahin hatte das Papierwissen einen weiten Weg von Samarkand über Mallorca und Ravenna nach Bettenhausen (einem östlich vor Kassel gelegenen Dorf) zurückgelegt.

Lange hatten sich die kurhessischen Landgrafen in Frankfurt am Main mit Papier eingedeckt.

Beckers Schwiegervater setzte den ersten „Holländer“ ein, eine verbesserte Maschine zur Herstellung des Zeugs. Er leimte, was das Zeug hielt. Den Leim lieferten pürierte Schafsfüße, Maulwurfohren und Schweineschnauzen. Miyamoto Musashi (1584 - 1645)* diktierte die Zutaten seinem geheimen Sohn. Der in Cassel bei Hofe stationierte Elitediplomat, diplomierte Gartenfreund und als Kasseler Geheimrat akkreditierte Yoda Sanada soll ein Nachkomme Musashis sein. Meister Sanada löste in Cassel den Tee-Wahn aus. Formidable Bürgerinnen kleiden und geben sich à la Japonaise, seit Sanada Sensei in der Fuldastadt Furore macht.

*Musashi lehrte den gleichzeitigen Einsatz von Lang- und Kurzschwert. Er kultivierte einen unprätentiösen Stil, in dem Natürlichkeit Trumpf ist. Vielen Beobachter:innen erscheint Niten Ichiryū kunstlos. Wir, die wir das Vergnügen haben, täglich mit Sanada Sensei ein gemütliches Stündchen zu fechten, erkennen in der ‚Kunstlosigkeit‘ die höchste Kunst. Dazu bald mehr.