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2023-01-23 09:37:43, Jamal

„Ihr Gewissen schlug regelmäßig an, änderte aber rein gar nichts an ihrem Verhalten.“ Dana Spiotta

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Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen.“ Goethe zu Eckermann 1825

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Imperialer Biedermeier

Im Juni erreicht die Stadt ihre „maximale Vegetationsdichte“. Sam Raymond liebt die letzten Wochen vor der vollen Entfaltung. Während sie joggt, rezensiert sie die Sensationen der Blüte. Sie registriert sämtliche Valeurs der Farbexplosionen. Gleichzeitig reagiert Sam auf eine historische Spur, die sich durch Syracuse zieht. Die 1839 gegründete Stadt im Bundesstaat New York wuchs über eine französische Missionsstation des 17. Jahrhunderts - und über eine Salzsieder:innen-Siedlung hinaus. Zwei ihrer vorstädtischen Namen - Salt Point und South Salina - rühren daher. Im 19. Jahrhundert wirkte sich die (auch mit John Ruskin assoziierte) Arts-and-Crafts-Bewegung auf Syracuse merkmalsbildend aus. Die Kunst-am-Bau-Spielart rührte von einem doppelten Abwehrreflex. Sie opponierte gleichermaßen gegen die industrielle Revolution und den imperialen Biedermeier des viktorianischen Zeitalters. Die Arts-and-Crafts-Künstlerin Adelaide Alsop-Robineau verbrachte ihre letzten zwanzig Lebensjahre folgenreich in Syracuse. Daran erinnert die Autorin. So wie die Professorin für kreatives Schreiben an der Syracuse Universität in ihrem neuen Roman reale mit fiktionaler Topografie verknüpft, mischt sie verbürgte Biografien mit erfundenen Figuren und verfremdeten Personen der Zeitgeschichte. Den Frühsozialisten John Humphrey Noyes macht sie zum Vater einer fiktiven Clara. Noyes stand der Oneida Community vor, die in einem Missbrauchskontext rezipiert wird.

Dana Spiotta, „Unberechenbar“, aus dem Amerikanischen von Andrea O’Brien, Roman, Kjona Verlag, 351 Seiten, 25,-

In der Handlungsgegenwart löst die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten in Sams Umgebung Schockwellen der Empörung aus. Sam schließt sich einer Gruppe von Trump-Gegnerinnen an. Die meisten Aktivistinnen sind Babyboomer. Zwei junge Aktivistinnen sprengen den Rahmen. Sie sehen in den Älteren die Verursacherinnen allen Weltelends. Kund tun sie das im Brustton der Überzeugung. Sam laboriert an der Herabsetzung als alte weiße Frau; zumal die Kritikerinnen im Alter von Sams Tochter Ally sind.

Pessimismus brachte Trump an die Macht. Seine Wähler:innen vereinten sich auf Plattformen der Zukunftsangst. Ihr Traum war die nationale Geborgenheit, ihr Albtraum die Globalisierung. Die Hauptprofiteure des freien Welthandels sehnten sich nach Restriktionen zu ihren Gunsten. Sie nahmen Zuflucht zu einem sonderbaren Altruismus, indem sie Entscheidungen trafen, die ihre Lage nicht verbesserten.

In einer YMCA-Fitnessstudiosauna liest Sam in der „schweißfeuchtgewellten, uralten Ausgabe“ eines Magazins einen Artikel über Marilyn Hartman. Die Amerikanerin im Rentnerinnenalter erlangte als zwanghafte blinde Flugpassagierin Berühmtheit. Die juristisch folgenlose Delinquenz deutet Sam als Diskriminierung. Die Justiz verweigert Marilyn das Recht auf Strafmündigkeit. Das fremde Schicksal wirft einen bedrohlichen Schatten auf Sam, die Marilyns „Unsichtbarkeit“ am eigenen Leib erfährt.

Marilyns Narrenfreiheit kontrastiert mörderische Polizeigewalt, deren Zeugin Sam eines Nachts wird.

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Immer wieder verliert Spiottas dreiundfünfzigjährige Heldin die Selbstbeherrschung an eine flammengleich aufschießende Wut. Unter einer „gewöhnlichen Fassade (verbirgt Sam) ein radikales Innenleben“. Dazu zählt „eine Faszination für junge, hyperfitte Männer“.

Sam wirkt als Referentin und Kuratorin im Clara Loomis House für kaum mehr als ein Taschengeld. Die fiktive Clara Loomis verkörpert den Prototyp der umstrittenen historischen Persönlichkeit. Einerseits erwarb Loomis als Vorkämpferin für Frauenrechte unbestreitbare Verdienste. Andererseits verdient die Suffragette als Eugenetik-Befürworterin ewige Verdammnis.    

Nach Jahrzehnten einer „Retro“-Existenz als Hausfrau und Mutter bricht Sam mit vertrauten Verhältnissen. Knall auf Fall trennt sie sich von ihrem Mann Matt (Ally bleibt beim Vater) und verlässt ein vorbildliches „Vorortdomizil … mit viel Zedernholz und Glas“.

Sam bezieht ein heruntergekommenes, architekturhistorisch jedoch interessantes Haus. Bald muss Sam da einen Einbruch konstatieren. Suchtdruck entfachte einen beschaffungskriminellen Tsunami der Verwüstung. Sam listet die gestohlenen Gegenstände auf, darunter eine „delfinfreundliche, handgeangelte Thunfischkonserve … eine unnötig teure Flasche Single-Malt Scotch“ und eine antike Schmuckschatulle samt Ehering. Die Bestohlene verweigert sich dem Schmerz und der Angst, bis sie entdeckt, dass die vandalischen Einbrecher:innen eine hundert Jahre alte Kaminkachel mitgehen ließen. In dem sie den Verlust der Rarität beklagt, gewährt Sam ihrer Verzweiflung ein Ventil.

Sam erleidet auf der ganzen Linie Verluste. Die überstürzte Aufkündigung der alten Ordnung löst eine Verschlechterungslawine aus. Spiotta zeigt eine Frau, die einen bürgerlichen Standard gewöhnt ist, den sie sich nie selbst garantieren konnte. Sie bleibt eine Alimentierte. Mit Abstrichen macht Sam so weiter wie in der Ära ihrer bourgeoisen Gattinnen-Situiertheit. Ihre Tochter stalkt sie medial. Sie kämpft um jeden Kontakt zu Ally, die sich zurückhaltend bis abweisend zeigt.

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Sam trainiert nicht nur ihre Ausdauer. Gewichtheben verschafft ihr eine unerklärliche Befriedigung. Sie besitzt „eine natürliche Begabung fürs Powerlifting“ aka Kraftdreikampf (Kniebeugen, Bankdrücken, Kreuzheben). Spiotta beschreibt ein merkwürdiges Phänomen. Sams Körper wird „im fortgeschrittenen Alter stärker, auf gewisse Weise sogar leistungsfähiger“.  

Sie muntert sich mit „Hardcore-Fitness-Podcasts“ auf. Schließlich tritt Sam in einer Jeder-darf-mal-Comedy-Show auf, um da, zum Entsetzen ihrer Tochter, aus dem Familiennähkästchen zu plaudern.  

Aus der Ankündigung

Sam Raymond … tut das, was viele Frauen in ihrem Alter sich wünschen: Sie ändert ihr Leben. Als sie sich in ein heruntergekommenes Haus im Problemviertel von Syracuse verliebt, kauft sie es kurzerhand. Und bemerkt erst zwei Atemzüge später, dass sie somit wohl ihre Familie verlassen wird. Fortan werden ihre Nächte von Selbstzweifeln und Polizeisirenen zerschnitten. Ihre Tochter antwortet nicht mehr auf ihre Nachrichten. Und in den Augen ihrer Mutter ist Sam ohnehin auf dem Ego-Trip. Als Sam in ihrer neuen Nachbarschaft schließlich Zeugin eines Gewaltverbrechens wird, scheint ihr Traum von einem selbstbestimmten Leben jäh vorbei – Schonungslos aufrichtig erzählt Dana Spiotta vom Älterwerden, von Liebe, Zerrissenheit und dem Mut, den wir aufbringen müssen, um miteinander in echte Verbindung zu treten. »Für mich ist das eine zentrale Frage: Wie ändert man sich? Kann man sich überhaupt ändern? Wie gewinnt man Klarheit darüber, wo man steht im Leben? Je älter man wird, desto schwieriger ist die Veränderung … so ein Bruch hat Folgen, für alle Beteiligten.« Dana Spiotta in einem Interview mit der L. A. Times »Wenn nicht der Mann, sondern die Frau eine Midlife-Crisis hat und die Familie verlässt, wird sie entweder als Egoistin verschrien oder als Rebellin gefeiert. Ein guter Roman zwingt uns nicht, zwischen diesen Lesarten zu wählen – und Spiotta hat einen sehr guten Roman geschrieben.« The New Yorker

Zur Autorin

Dana Spiotta, 1966 geboren, hat bislang fünf Romane veröffentlicht, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. Sie lebt mit ihrer Familie in Syracuse, New York, wo auch ihr neuer Roman spielt.  

Zur Übersetzerin

Andrea O’Brien, geboren 1967, übersetzt seit Jahren zeitgenössische Literatur aus den englischen Sprachen und wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in München.