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2023-02-06 08:04:49, Jamal

Grünes Glas

„Und greife ich an dem weichen Ufer, das man Am Sande nennt, in den Fluss, ist mir, als griffe ich durch das grüne Seltersglas der Zeit.“ Ulrike Draesner, „Die Verwandelten“

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„Er reichte mir freundlich die Hand, indem er mit himmlischer Sanftmut einige Worte sprach.“

Johann Peter Eckermann über eine Begegnung mit Wilhelm Freiherr von Humboldt 1823 in Weimar. Der Chronist traf den weltberühmten Weltreisenden und Universalisten, der auch einmal Bergrat in Jena gewesen war, in Goethes Wohnzimmer. Der in seinem dreiundsiebzigsten Jahr stehende Minister laborierte an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Leibarzt, der Weimarer Hofmedicus Wilhelm Rehbein, erschien zur Visite.

Im 19. Jahrhundert traf Wilhelm v. H. Goethe neun Mal. Nachzulesen bei Volker Hesse, Quelle

Das Gespräch mit einem anderen Genie war Wilhelm ein starkes Bedürfnis, so Volker Hesse, Quelle

„Dies, mein Bester, ist der einzige leuchtende Punkt den ich auf dieser Heimfahrt sehe, ich sehne mich in der That unbeschreiblich nach dem Gespräch mit Ihnen.“ Aus einem 1808 von W.v.H. verfassten Brief, zitiert nach Ludwig Geier, Quelle

Goethe richtete seinen letzten Brief an W. v. H. Nachzulesen bei Volker Hesse, Quelle 

© Jamal Tuschick

Lebende Fossilien im Nordend 

Das Nordend platzt aus allen Nähten. Es ist ein Spielplatz dreißigjähriger Siegerinnen, ein vorläufiger Ort. Zeitlich liegt das Nordend vor den Eigenheimen in der Wetterau. Für die Neubürgerinnen ist die alte Quartierordnung unbedeutend. Zugehörigkeit ist eine Frage des Geldes. Die aufgegebenen Metzgereien am Saum der Rohrbachstraße sind egal. Das alte Betriebsfleisch des Viertels stinkt vor Gleichgültigkeit. Es macht weiter gute Geschäfte. Goya interessiert sich nur für die lebenden Fossilien, für das Andauernde und an einer Stelle Überlebende. Goya besucht Sonderschulen inoffizieller Verlautbarungen. Er kauft Weingummis bei den Tamilen an der Eckenheimer Landstraße. Sie haben der deutschen Armut einen Korridor neben ihrem Wasserhäuschen eröffnet. Die Armen lehnen im Gang an Kästen, die Tamilen pfeifen durch ihr Reich wie dressierte Mäuse. Goya bemerkt einen Posten abgefahrener Reifen, eine Skulptur aus Marmeladegläsern, eine Kupferrohrinstallation. 

Kupfer bringt Kohle. 

Haben Sie Schwierigkeiten Ihre Frau zum Höhepunkt zu bringen? fragt Bild. Jemand möchte eine Zeitung mit seiner EC-Karte bezahlen. Schon wieder Abend, Valerie Constanze Wagner beschriftet die Tafel im Schwarzburg 82. Es gibt nur drei Gerichte zur Auswahl. Die Zahl im Wirtshausnamen nennt die Hausnummer und wirkt wie eine Ermahnung, bloß nicht originell werden zu wollen. Im Rachen der Kneipenhäuslichkeit bricht ein vom Karies der Vergreisung ruinierter steiler Zahn einen Aufbruchsversuch ab. Goya erschlafft neben Traktor, Buffet-Kurt, Herr Lehmann-Zwo, Sauhund-Igor und der Mamba am Tresen, während seine schönste Cousine zur Gemeinde spricht. Goya hört kaum hin. Beteiligungen im Millimeterbereich. Anteilnahme wie aus der Bauchhöhle. Fadenscheiniges Wohlwollen.   


Jemand fragt, ob Konsonanten Unterlaute haben können. Jemand versucht die phonetische Unschärfe zwischen Backwahn und Bhagwan zu melken. Bloß, wer weiß denn noch, wer Bhagwan war? 
Die Mamba (bürgerlich Ralf) berichtet wieder einmal von ihrer Zeit als Regisseur. Regie führte Ralf in einer Schneewittchen-Adaption mit zurückgebundenen Penissen wie bei den Papua in Neuguinea; als Anspielung auf das elisabethanische Theater, in dem Frauenrollen mit Männern besetzt wurden. 

Zum Beweis seiner Selbständigkeit kehrt Peter Karaseks Hund ohne Karasek ein. Valerie kippt für ihn Bier in ein Schlabberdings.  
„Sauf dich nie mehr als voll“, rät Buffet-Kurt dem Hund. 

Zwei Stunden später 

Valerie bringt in einem Satz drei ungewöhnliche Wörter unter: Perpendikel, Parapluie und Schawellche. Unbedingt muss man die Frankfurter Aussprache in Anschlag bringen und jedes Wort auf der ersten Silbe betonen, will man es richtig machen.  
Valerie kann sogar mit Sauhund-Igor. Sie greift ihm leicht unter die versifften Arme, hilft dem Benehmen auf. Päppelt es. Gibt ihm einen Ansporn zum sittlichen Aufschwung. Igor zählt zur bekennenden GV-only-Fraktion, die ab dem IV. Kreis um den Glutkern der Eingeschweißten gar nicht so schlecht ankommt bei überlasteten Alleinerziehenden.  
„Selbst der Schwan lebt nicht monogam“, verkündet Igor im Tonfall des Alleinunterhalters im leeren Festzelt. Er redet vom Leid des Heilands, dem schon so viele in den Schmerz folgten: freiwillig wie die Flagellanten und unter Zwang wie die ersten Christen in Rom.