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2023-02-07 08:41:57, Jamal

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„Später am Abend hockten die Kerle an der Bar wie sinnliche Hasen und machten Männchen.“ Ulrike Draesner 

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„Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln.“ Goethe

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„Wenn jemand spricht, wird es hell.“

Sigmund Freud, „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, 1905; das Zitat bildet den Schlusssatz des Nachtrags in Ulrike Draesners neuem Roman „Die Verwandelten“.

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„Hätte ich mit (der) Darstellung der Welt so lange gewartet, bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung Persiflage geworden.“ Goethe 1824 im Gespräch mit Eckermann

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„Und greife ich an dem weichen Ufer, das man Am Sande nennt, in den Fluss, ist mir, als griffe ich durch das grüne Seltersglas der Zeit.“ Ulrike Draesner 

Nebelkinder

Als Gerhild Schücking wächst sie in München-Solln auf. Erst als Erwachsene erfährt sie ihren wahren Geburtsnamen - Alessa (Alessja) N.N. - und dass sie 1937 im Haus „Hochland“, einem 1936 gegründeten „Lebensborn“-Heim in Steinhöring bei Ebersberg zur Welt gekommen ist. Offenbar war Alissa nach der Entbindung gemeinsam mit der polnischen Leibmutter entlassen worden, vier oder fünf Jahre später jedoch von einer „Sendbotin“ aus Wrocław/Breslau ins Heim zurückgebracht worden.

Die Abschiebung verband sich mit einem Vermächtnis. „In Saum des Reisekleides“ war ein halbes Foto eingenäht, in der Schürze eines kostümierten Echtfellkuschelhasen die andere Hälfte; so sepiabraun, wie es der Technik um 1940 entsprach. 1943 hatte das Ehepaar Gerd und Gerda Schücking Alessa (um ein Jahr verjüngt, folglich als amtliche Vierjährige) übernommen und, bedacht mit einem germanischen Namen, großbürgerlichen Verhältnissen zugeführt.

Berauschend suggestiv

Rechtsanwalt G.S. war als Erbe einer Dosenfabrik außerordentlich vermögend. Alissas Tochter erbt eine ihr bis zum Tod der Mutter verheimlichte Wohnung in Wrocław. Die auf Erbrecht spezialisierte Rechtsanwältin Kinga Schücking, alleinerziehende Mutter einer adoptierten, auf Tahiti von einer Dreizehnjährigen zur Welt gebrachten Tochter …

Kinga nennt die Leibmutter ihrer Adoptivtochter „Bauchmama“

… namens Faiza Alberta Magnolia Viktoria, kurz Flummy, taucht aus dem berauschend suggestiven Romaneinstieg als Zugreisende auf.

Von Anfang an waren wir überall zu viele, im Kindergarten … Klassenzimmer, auf den Schulklos. Nun also ein Kampf um die Steckdose im überfüllten ICE.

Wir … gezeugt, um die Lücken der Kriegstoten zu stopfen. Wir, die „Nebelkinder“ der Kriegskinder.

Ulrike Draesner, „Die Verwandelten“, Roman, Penguin Verlag, 600 Seiten, 26,-

Katastrophenkitt/Schweigekitt/Poesie des Schweigens

„Meine beiden Sprachen konnten enorm unterschiedlicher Meinung sein.“ DDD - Doroto ‚Doro‘ Dombrowska

Kinga vermisst die der Au-pair-Person Laura anvertraute Flummy. Sie ist auf dem Weg zu einem Vortrag in Hamburg. Im Rahmen des Auftritts ergibt sich die Bekanntschaft mit Dorota ‚Doro‘ Dombrowska, die jederzeit als Schwester der Referentin durchgehen könnte. Plötzlich spricht Doro in der ersten Person. Da spricht eine Polin mit deutschen Spielräumen. Auch in ihrem Beruf als Logopädin nutzt sie beide Sprachen.

Echokammern des Schweigens

Doro führt die Verfolger:innen tiefer in ein „Dornenheckenlabyrinth“ voller mit Schweigen gekitteter Katastrophen und bloßer Merkwürdigkeiten. Während sich Kinga auf dem schlesisch-polnischen Gelände ihrer Familiengeschichte vortastet, erlaubt ein Zeitsprung, Kingas Mutter dabei zu beobachten, wie sie sich - Jahrzehnte zuvor - als höhere deutsche Adoptivtochter ihr leibmütterliches Erbe erschließt. Sie nähert sich Doros Mutter Walla. Die Krankenschwester und Mutter von vier Kindern begegnet der Zutraulichkeit mit robustem Misstrauen.

Tastet sich da gerade eine Angreiferin vor, die mit einem gesetzlichen Anspruch an existenziellen Belangen rühren will?

Alissa beruhigt Walla. Es ginge ihr zu gut, um noch irgendwo irgendwas abstauben zu müssen.

Auch Walla lebt mit einem Herkunftsgeheimnis. Einst hieß sie Renata Charlotte Valerius. Damals war sie eine bürgerliche Elevin, und Alissa die Tochter der Köchin ihrer Eltern - und des Hausherrn.

Die Verhältnisse machten aus der Deutsche Renata ‚Reni‘ die Polin Walla, allerdings mit einer deutsch gebliebenen Mutter. Die Polin Alissa wurde nach dem NS-Standard zur Premiumdeutschen, allerdings mit einer polnischen Sehnsucht.

Adele Herschel und Marolf Valerius: Jetzt kennen wir die Namen der leiblichen Eltern von Kingas Mutter. Die (das Verhältnis ihres Mannes fördernde) Gattin Else gab die „Sendbotin“. 

Das wird spannend - und so episch erzählt, dass ich nicht zu viel verraten habe. Der Romanfluss ist voller Strudel und Schnellen und entfaltet im Ganzen einen derart starken Sog, dass das Weiterlesen eine Notwendigkeit ist.

Ich grase kurz noch an der Peripherie. In der Gegenwart der 1930er Jahre erscheint Marolfals manisch-depressiver Theaterverrückter. Adele, auch sie taucht in der ersten Person auf, erinnert ihn so:

„Wurde es besser mit ihm, fing er an, mir von seinem Gott vorzuschwärmen. Er nannte ihn Shakespeare.“

Adele spielte im Haus ihrer Herrschaften bald nicht mehr nur die Rolle der heilenden Geliebten eines unter Aufsicht fremd gehenden Gefährders des häuslichen Friedens: in der Konsequenz einer unverblümten Redeweise. Vielmehr avancierte sie zur Vertrauten und Mitwisserin, zu einem fürsorglich in Schach gehaltenen Risiko. Ihre Schwangerschaft werteten Else und Marolf mit einem ‚arischen‘ Scheinerzeuger auf. Offiziell entband Adele das Kind eines SS-Mannes.

Aus der Ankündigung

»Wir hielten uns an den Händen, für die Kraft. Jede brauchte einen Menschen.«

Eine nationalsozialistische Vorzeigemutter, die anderen beibringt, wie Kinder zu erziehen sind, doch über das Wichtigste, was sie verloren hat, niemals spricht. Eine Köchin, die lieber Frauen geliebt hätte als den Dienstherrn, unterwegs durch das zerstörte Deutschland im Sommer 1945. Ein Mädchen in München Solln, geboren in einem Lebensbornheim der SS. Eine alleinerziehende Anwältin von heute, die nach dem Tod ihrer Mutter unverhofft eine Wohnung in Wrocław erbt – und einen polnischen Zweig der Familie entdeckt. Alle Figuren verbindet ein Jahrhundert von Krieg und Nachkrieg, Flucht und Vertreibung, von Gewalt. Was bedeutet es, in einem Staat zu leben, der Menschenzucht betreibt? Und wie darüber schreiben, was den Frauen im Krieg geschieht? Was ihnen die Sprache nimmt. Was sie für immer verwandelt. Und wie über die unsichtbare Kraft, die verhindert, dass sie daran zerbrechen?  Ulrike Draesner gibt den Verwandelten ihre Stimmen zurück. Sie erfinden sich neu, wechseln Sprache und Land, überraschen sich selbst mit ihrem Mut, ihrem Humor, ihrer Kraft. Die Bedeutung von Familie verändert sich, Freiräume entstehen. Ein erschütternder Roman, bewegend, aufwühlend, zärtlich, klug. 

Schaut: die Liebe der Töchter zu ihren Müttern, der Mütter zu ihren Töchtern. Schaut, wie sie blitzt durch ein dunkles Tuch.  Ein bewegender Mütter-Töchter-Roman über hundert Jahre europäischer Geschichte  Mitreißend und ergreifend schreibt Ulrike Draesner über Frauen und Krieg, unterdrückte Erinnerungen und die Folgen des Schweigens  Ein so schonungsloser wie ermutigender Blick auf die weibliche Fähigkeit zu Verwandlung und Neuanfang.

Zur Autorin

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Preis der LiteraTour Nord, den Bayerischen Buchpreis, den Deutschen Preis für Nature Writing, den Ida-Dehmel-Literaturpreis (alle 2020) sowie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021). Von 2015 bis 2017 lehrte sie an der Universität Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt in Berlin und Leipzig.