Sehen Sie auch hier.
*
„(Die Russen) haben es eilig, denn sie wissen, dass die Welt am Ende stärker ist, aber Zeit braucht, um ihre Kraft zu entfalten.“ Wolodymyr Selenskyj, Quelle
Frankfurter Genie
„Man brachte es fertig, revolutionäre Werke wie ‚Räuber‘ und ‚Kabale und Liebe‘ in eine ungefährliche Ideologie umzulügen. Der Spießer entgiftete alle rebellischen Gedanken, in dem er sich mit ihnen identifizierte. Der Banause usurpierte die Revolution und konnte deshalb im Leben umso selbstzufriedener auf sie verzichten. Man plünderte den Inhalt und nutzte die Klassiker ab. Es gab keine Tradition, nur Verbrauch.“ Herbert Ihering
*
„Im Jahre 1621 - als Descartes etwa 26 Jahre alt sein mochte - reiste er seiner Gewohnheit nach wieder einmal umher (denn er war so ruhelos wie eine Hyäne) und kam damals auch entweder bei Glückstadt oder bei Hamburg an die Elbe, wo er sich nach Ostfriesland einschiffte. Was er dort eigentlich wollte, hat man niemals herausbekommen, vielleicht wusste er es selbst nicht, denn in Emden änderte er plötzlich seine Reiseroute und beschloss, nach Westfriesland zu segeln.“ Thomas de Quincey, „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“
Descartes fiel unter die Seeräuber. Die Briganten redeten offen in seiner Gegenwart. Sie glaubten, er verstünde ihre Sprache nicht. Der Philosoph belehrte sie eines besseres. Donnernd versprach er ihnen, sie mit seinem Degen zu filetieren.
*
„Tee war im Anfang Medizin und wurde erst allmählich ein Getränk. Im China des achten Jahrhunderts kam er ins Reich der Poesie als etwas, das zum guten Ton gehörte.“ Okakura Kakuzō, „Das Buch vom Tee“
*
„Der Himmel der modernen Menschheit ist in Wahrheit geborsten bei dem zyklopischen Ringen um Macht und Reichtum. Die Welt tastet im Dunkel des Egoismus und der Niedrigkeit. Wissen wird um den Preis des guten Gewissens erworben, Wohltat geschieht um des Nutzens willen. Osten und Westen kämpfen wie zwei in die tosende See gestürzte Drachen vergeblich um das Kleinod des Lebens.“ Okakura Kakuzō, „Das Buch vom Tee“
*
Am Donnerstag, den 13. November 1823 traf Johann Peter Eckermann Goethes langjährigen Kammerdiener vor Weimar auf der Straße nach Erfurt. Obwohl der Chronist den Namen verschweigt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass Eckermann dem geschäftstüchtigen und umtriebigen, von Goethe mit Wohlwollen bedachten Christoph Sutor (1776 - 1795) begegnete. Der Erfurter Bäckersohn machte etwas aus sich und starb nobilitiert als Weimarer Ratsdeputierter.
„Als ich bei (Goethe) ... kam, mochte er etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; er war sehr mager, behände und zierlich, ich hätte ihn leicht tragen können.“
Eckermann beanspruchte Sutor als Gewährsperson für sein Idol. Der smarte Subalterne sollte ihm fix ein Porträt des Künstlers als junger Mann anfertigen. Sutor erinnerte den Weimarer Herzog als ständigen Gast bei dem Frankfurter Genie, das sich vor allem mit Naturforschung befasste.
„Einst klingelte er mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete … (sagte er:) ‚… wir sind in einem bedeutenden Moment; entweder wir haben in diesem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins.‘ … Und nun musste ich mich zu ihm aufs Bette setzen, und er demonstrierte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.“
Wochen später kam die Nachricht vom Erdbeben von Kalabrien 1783. Goethe hatte es in Weimar diagnostiziert. Nach den Aufzeichnungen von Johann Peter Eckermann
© Jamal Tuschick
Spielender Staub
Mülltonnengestank zieht in den zweiten Stock. Goya steht im Bad am Fenster. Parterre ist der Kinderladen, in dem er war. Reste ausgewogener Ernährung gären in den Tonnen mit den chemischen Reaktionen von Convenience Food um die Wette. Auf dem Hof rauchen Erzieherinnen. Goya bleibt unbemerkt auf seinem Logenplatz, manchmal feiert die Hausgemeinschaft im Hof. Das Haus hat im Krieg einen Schlag gekriegt und steht seither so schandhaft schief da wie sein eigenes Mahnmal. Das nächste Haus Richtung Friedberger Platz wurde in eine Lücke gesetzt und hat als Nachkriegsneubau ein Stockwerk mehr als die Gründerzeitigen. Lachend rücken die Frauen auf einer Mauer zusammen. Keine kann sich strecken, ohne die andere an interessanten Stellen zu berühren. Eine Erzieherin ist neu. Sich vorbeugend, steckt sie ein Feuerzeug in eine Zigarettenpackung. Wahrscheinlich sind aus ihrem Leben schon viele kleine Sachen einfach verschwunden. Die Überlegung hält Goya davon ab, in seinem Vormittag fahrplanmäßig fortzufahren. Paula kommt mit einer Kanne auf den Hof, die Neue sagt: „Wenn mir etwas schwerfällt, denke ich mir ein anderes Ich dafür aus. Das muss dann da durch.“
Goya gefällt der Einfall so gut, dass er die Frau auf der Stelle heiraten möchte. Solche Übertreibungen sind auch neu.
Paula inspiziert ihre Beete. Die greise Frau Meise zieht Flusen aus einem Besen und kämpft am Fenster mit den Flusen, die bei ihr bleiben wollen. Klogeräusche im dritten Stock untermalen das Geschehen.
„Er erwartete noch etwas Besonderes, aber zum Schluss geht nichts Besonderes mehr.“
Die Feststellung verbirgt eine Frage. Die Kollegin nickt bloß, ist gerade nicht ihr Thema. Paula bemerkt Goya erst jetzt und winkt ihm kompetent zu. So als sei sie nicht arbeits- und beziehungslos seit viel zu langer Zeit. Ihre Bürokostüme trägt sie als Bedienung im Café Schwarzburg auf.
Die Erzieherinnen heben synchron die Köpfe, sie stehen ertappt auf. Goya grüßt erhaben. Paula wendet sich wieder ihren Dingen zu.
Auf dem Weg zu den Tonnen prallt Goya im Hoftürrahmen mit Sprotte zusammen. Sie trägt einen Blaumann und ein Malerschiffchen. Sprotte renoviert nach dem Auszug ihres vorläufig letzten städtischen Angestellten. Sie steht auf abgerundete Lebensläufe mit Ecken und Kanten. Mit Goya gab es gemeinsame Fernseh- und Spieleabende. Eine im Gespräch vertiefte Nacht.
Der Auszug des Angestellten verlief dramatisch. Die Hausgemeinschaft rotteten sich gegen den Mann zusammen.
Sprotte streicht nach jeder Enttäuschung ihre Wände neu.
„Man müsste einmal wieder im Hof feiern, möchtest du nicht das Organisationskomitee ins Leben rufen?“
„Gern“, sagt Goya.
Kinder platzen aus ihrem Laden, verfolgt von dem Erzieher Ralf Schnabel und der Neuen. Jemand ruft sie, nun kennt Goya ihren Namen. Er kennt auch Mariannes Ziel.
Goya fährt auf dem Fahrrad zum Park. Auf dem Spielplatz dreht sich Marianne wie eine von Kindern gespielte Orgel. Müllmänner räumen verträumt eine Deponie der letzten Nacht weg. Halb auf den Spielplatz gekippten Dreck. Abseits bleibt ein Sofa stehen. Bald steht neben dem Sofa eine Kinderwache. Ein Pritschenwagen rollt auf den Platz. Die Männer, die das Sofa aufladen, haben keinen Blick für das Parkpublikum.
Einbier-Otto steigt von seinem verrosteten Klapprad. Er sieht nach Herzinfarkt in nächster Zukunft aus. Kiosk-Khan vertreibt einen Strolch, der vor zwei Tagen auf einem Tisch einen hohen Bogen vorgeführt hat. Mit den Zwangsmaßnahmen wartete man, bis der Pinkler fertig war. Er ließ sich einfach vertreiben, offenbar mit dem Gefühl, sein Ziel erreicht zu haben.
Otto grüßt aufgeweicht.
Ralf scheint an Marianne nicht interessiert zu sein, das sieht ihm ähnlich. Die Kindergartenkinder sind wie Kreisel. Stillstand bringt sie zu Fall.
Ein Rumäne, der lange mit Rosen unterwegs war, setzt sich zu Otto. Eine Stadtstreicherin stellt die Beutel ihrer Obdachlosigkeit zwischen Otto und den Rumänen ab.
Die Leute bringen alles Mögliche mit zum Spielplatz, eine kratzt Butter von einem Dosenboden. In ihrem Rücken wirbeln Kinder spielend Staub auf. Der Staub überzieht sämtliche Flächen.