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„Alles, was wir tun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Günstiges, und das Verkehrte nicht immer etwas Ungünstiges hervor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegenteil.“ Goethe
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„Plötzlich spürst du einen Stoß und weißt, das Spiel läuft, und du kannst in die Offensive gehen.“ Boris Jelzin
Historische Gliederungen
Es gab zwei zentrale Spielfiguren im Gedächtnistheater der unmittelbaren Nachkriegszeit: die Verdrängung und das Gedenken (der eigenen Opfer). Ich habe Jahrzehnte nicht mehr daran gedacht. Zu selbstverständlich war es damals. Zu absurd erschien es später. Schuld hatten die Amis und der Russe. Auch die ‚Itaker‘. Wir waren frei von Schuld. So bizarr das klingt, aber die Ursuppe für den „Schuldkult“ war schon gekocht, bevor die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie ihr Verhältnis zur Bundesrepublik bestimmen konnten. Besonders deutlich wurde das bei der Behandlung der ‚Landfahrer‘. Sinti und Roma verstanden nicht wenige als eine Plage, die in der Kürze des Tausendjährigen Reichs nicht rechtzeitig ‚ausgemerzt‘ worden war. Während sich keiner mehr traute, öffentlich ‚die Judenfrage‘ zu stellen, stellte man sich in deutschen Ämtern sehr wohl ‚der Landfahrerfrage‘.
In den 1970er Jahren bestimmte zwar eine sozialdemokratische Agenda den gesellschaftlichen Diskurs, Stichwort „Mehr Demokratie wagen“, die Revanchist:innen waren aber in der Überzahl und nannten die Befürworter:innen der Ostverträge ‚Vaterlandsverräter‘. Mein Vater war nicht nur Vaterlandsverräter, sondern auch Nestbeschmutzer, weil er die deutsche Schuld anerkannte. Dass etwas vollkommen Offensichtliches, sich in der Schläfrigkeit des Alltags mit somnambulen Bewegungen unter dem Debattendeckel halten ließ, frappierte mich. Oft begleitete ich meinen Vater zu den SPD-Ortsvereinssitzungen im Bürgerhaus. Da trafen sich auch grimmige kalte Krieger. Nicht selten geriet ich in einen Hexenkessel des Revanchismus. Vielleicht bin ich deshalb heute so kaltblütig. Ich habe schon zu viele Männer wüste Drohungen ausstoßen hören, die mir dann als Tattergreise am Rollator wiederbegegneten. Es fällt mir schwer, enragierte und lautstarke Leute ernst zu nehmen.
Heute frage ich mich, wo war die außerparlamentarische Opposition?
Sie war nicht da, wo es einen Satz heiße Ohren umsonst gab. Brennpunkte interessierten die Studierenden nicht. Angehende Sozialarbeiter:innen engagierten sich in der Gesamtschule, einem „Modellprojekt“. Sie leiteten die Hausaufgabenbetreuung und verpassten das Gros der Schüler:innen. Die Siedlungs- und Dorfjugend ignorierte schulische Nachmittagsangebote. Sie versäumten sogar Holgers, von mir heiß geliebten Kraftunterricht in der Raucherecke. Allerdings füllten sie die Reihen im 1903 gegründeten Turn- und -Sportverein, kurz Tuspo. Die Kinder der Eingesessenen gingen in den Fußstapfen ihrer Eltern. Folglich stellte sich für sie nur die Frage Fußball, Handball oder Tischtennis. Historische Gliederungen wie den Tuspo-Raucherclub und die -Schachabteilung existierten nicht mehr.
Holger Klement unterrichtete Sport, Kunst und Gesellschaftslehre. Er zählte zu jenen Dutz-Pädagogen, die sich partout nicht siezen ließen. Der ewige Hessenmeister (im Kraftdreikampf) stammte aus dem fränkischen Kahlgrund. Seine Mundart verriet ihn. Die Sprechweise erinnerte an knarrende Dielen.
Schon in seinen Dreißigern verkörperte Holger den Typus des Urgesteins. Er war Genosse und gehörte beinah zur Familie. Oft hieß es: Dein Vater ist mit der SPD verheiratet. Die Fragwürdigkeit der Parteiarbeit in einer Welt der Kleingärtner:innen und Heimwerker:innen …
Die Vorurteile gegen Studentinnen waren so groß, dass viele sich von ihnen noch nicht einmal beim Flaschendrehen küssen lassen wollten. Geküsst wurde entlang von Demarkationslinien, die antiken Grenzziehungen entsprachen und zäh verteidigt wurden. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, in der Nordstadt andere Ziele als Supermärkte oder Fachgeschäfte anzusteuern. Es gab jede Menge fremder Planeten, die in den Erzählungen der Altvorderen eine unglaubliche Patina bekamen.
Wenn ich an Geschichten über die Brücke am Kwai, Kehrs Trinchen oder die Kesselschmiede denke. Das waren Kneipennamen wie Donnerhall. Auch mein Vater kannte Rothenditmolder Gaststätten nur vom Hörensagen.
Die Segregationsschranken fielen über Nacht. Plötzlich war Kassel eine offene Stadt. Ich springe in das Jahr 1990. Ich beteilige mich an einer Ortsbegehung in Rothenditmold. Die Gruppe besteht zu beinah hundert Prozent aus Genoss:innen. Wir stellen uns auf einen Spielplatz und die Referentin erklärt, was da mal gestanden hat: eine 1594 erbaute evangelische Kirche, die in der Gründerzeit an die Katholik:innen fiel und als Arsenal der Müllabfuhr säkularisiert wurde. 1943 sprengten Bomben das Dach ab. In den1950er Jahren wurde die Ruine dem Erdboden gleich gemacht.
Wir hätten den Nachmittag in Kehrs Trinchen bei Eisbein und Bier ausklingen lassen können. Wir fuhren aber lieber alle wieder heim. Jeder huschte in seine Ecke. Die meisten waren in einer Scheißhausenge aufgewachsen. Zum Glück war das lange vorbei.