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“When things reach the extreme, they alternate to the opposite.” Alfred Huang
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Für William Gaddis war Realität „nichts anderes als die umlaufende Rede“. Hanns Zischler sprach von „asynchroner Wahlverwandtschaft“. Gaddis habe das von Henry James „unter den Teppich gekehrte Gemurmel Amerikas hörbar“ gemacht.
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Um ein Haar wäre uns Hitler erspart geblieben. Im Dezember 1931 geriet ein betrunkener Chauffeur in einer vereisten Mecklenburger Kurve ins Rutschen, während er Hitlers schwarzen Mercedes zu überholen versuchte. Gegen alle Vernunft „trat er kraftvoll auf die Bremse“. Er fuhr den ihm anvertrauten roten Maybach zuschanden. Personen kamen nicht zu Schaden. Aber es war knapp.
Alexander Kluge meditiert über den Vorfall: „Ich … wäre beinah geboren worden, ohne dass Hitler … Es fehlte am tödlichen Zusammenstoß … ein Abstand von vierzig Zentimetern zwischen den … Fahrzeugen.“ Aus Alexander Kluge/Gerhard Richter, „Dezember“
© Jamal Tuschick
Das Gemurmel Amerikas
Wir schreiben das Jahr 1996. Die Prunktexte der Messebeilagen gelten einem „Großautor der Moderne“ (Gustav Seibt). Es geht um die Etablierung eines weiteren Genies auf dem deutschen Buchmarkt, man hat sich auf Gaddis geeinigt, so wie zuvor auf Gabriele Goettle. Gaddis erscheint in Frankfurt am Main, seine Familie ist seit den Tagen von Peter Stuyvesant in New York tonangebend. Er repräsentiert seine Klasse bis zu den Ziselierungen. Er triumphiert als Klischee eines White Anglo-Saxon Protestant mit Hosenträgern. Er sieht aus wie eine Erfindung von Tom Wolfe.
Cole von Pechstein soll Gaddis für die internationale Ausgabe der Kasseler Schnapsnachrichten interviewen. Er drängt durch die Menge in der Lobby des Frankfurter Hofes. Kongressteilnehmer:innen blockieren die Aufgänge. Der Schriftsteller ist nicht zu sprechen, jedenfalls nicht für Nobody Cole. Das Karategenie wendet auf dem Absatz und donnert zurück nach Kassel.
Stunden später
Es ist schon wieder halbzwei, die Eingeschweißten trinken eiskalten Mesa Mayor und La Calzada. Nobel geht die Welt zugrunde. Die letzten Zahlgäste haben die bösen Gesichter kleiner Leute, die nur noch die Aussicht auf ein Grab kennen. Ihre Ranzigkeit baut sich im Schankraum Nester. Ein Däniken für Headbanger erzählt von Aliens in ihren Cellophaniglus. Ohne Auftrag und Liebreiz ist außerdem Pudel am Start. Der berüchtigte Thalamusinfarktpatient schwadroniert zwischen dem Wilhelmshöher Urgestein Schmuddel und jenem mit Ringen unter den Augen in Bulgarien zur Welt gekommene Zauberer, der als Kellner im Grauen Star arbeitet.
„Wie meinst du das?“
„Ich meine gar nichts“, antwortet Cole. Das hat er in Kassel nicht nötig. Er überblickt seine Epoche und treibt sie an. Manche sehen ihn auf einer Stufe mit Theoderich, dem Überhaupt der Goten. Schon als Junge war er kühl und mit den richtigen Leuten auf Tuchfühlung. Früh am Zocken und mit achtzehn gleich ein großes Auto.
Selig sind die geistig Armen. Besser im Dunklen tappen als auf dem Trocknen sitzen. Schmuddel war früher im Erwachsenenfilmgeschäft. Er vergleicht die Tresenkraft Toni nostalgisch mit der Königin von Saba, die früher im Star zapfte. In drei Reihen standen Leute vor ihrem Arbeitsplatz Schlange. Glücklich war, wer der Königin Feuer geben durfte für eine Lord Extra. Nacht für Nacht betrogen Männer ihre Frauen in Gedanken mit der Königin von Saba. Sie bedient nun die Frühschoppenrentner in der Kaschemme.
Ob Toni schon einmal bei Beate Uhse eingekauft hat? Die Wände ihrer Wohnung sind monothematisch mit Ich-Porträts tapeziert. Das weiß Cole noch nur vom Hörensagen.