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2023-02-27 12:06:01, Jamal

„(Bertolt Brechts) Reime lassen die Lehrmeister der schönen Rede und die Anhänger des lexikalischen Ornaments Gift und Galle spucken.“ Sergei Michailowitsch Tretjakow

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In einem Artikel über den von Baha-ud-Din Naqshband im 14. Jahrhundert gegründeten Naqschbandīya-Orden fand Einar die Formulierung „Abgeschiedenheit in der Gemeinschaft“. Quelle

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„‚Angenehme Neuigkeiten wenigstens gibt es nicht,‘ fuhr der Alte dann fort. ‚Nur so viel ... dass die Hasen noch immer beraten, wie sie die Adler verjagen sollen. Die Adler aber zerfleischen bald den einen, bald den andern von ihnen. In der vorigen Woche haben die russischen Hunde den Leuten in Migiz die Heuschober verbrannt, der Schädel soll ihnen zerplatzen‘, sprach der Alte grimmig mit seiner heiseren Stimme.“ Leo Tolstoi, „Hadschi Murat“

Oma und ich © Jamal Tuschick

Retroschnickschnack

Ist nicht jede Antwort auf die Herkunftsfrage soziale Pornografie? Einar war Fahrschüler, das unterschied ihn. Er musste morgens zwei Stunden vor allen anderen aufstehen. Um rechtzeitig dies und um rechtzeitig das. Winters wartete er im Dunkeln an der Haltestelle. Die Autos rauschten Volllicht vorüber.  

Morgens saß ich vor allen anderen in der Aula, die Verbindungen waren ungünstig. Ich glaube, meine Eltern hatten keine Freude mehr aneinander seit hinter dem Sportplatz bei jedem Wetter gegrillt wurde. Die aromatische Verbindung von Fleisch und Feuer. Mir ist, als hätte ich nie etwas Stärkeres erlebt, als an einem Sommerabend, der nicht abkühlt, zu den Leuten und ihren Kindern hinter den Sportplatz zu laufen, wo mein Vater grillt bis in alle Ewigkeit.

Für dauerhaft gelten kurze Fristen. Wer zwölf Monate durchgehalten hat, kriegt einen Traditionswimpel ins Fenster gestellt. Einar verteilt die Wimpel. Er hausiert für Unsere Stadt soll schöner werden und Kauft im Kiez. Die Vereine geben Rabattmarkenhefte aus. Rabattmarken sind geiler Retroschnickschnack. Einar stellt die Wimpel in Hipster-Schwemmen und Frisör-Stuben mit piefigem Pfiff. Er platziert Wimpel auf Umschlagplätzen für gebrauchte Tonträger. In Steffis Hinterhof-Casting-Studio tritt Einar außerdem als Assistent auf. Steffi lagert immer noch sechstausend Karteikarten; aus der Zeit vor der Digitalisierung. Sie raucht Nelkenzigaretten am offenen Fenster. An der Pinnwand klemmen das Pilates-Flugblatt und die Thai-Speisekarte.  

Karteidateien anzulegen ist leichter und geht schneller als die Erwartungsvollen abzuwimmeln. Das Geschäft mit dem Foto, das sogar dich reich und berühmt machen kann, übt enorme Anziehungskraft nicht nur auf die Siebzehnjährige aus, die keinen Zweifel daran hat, dass ihr Karriere-Glück in naher Zukunft wie in einem Überraschungsei steckt. Gepiercte erwarten den Kamerablitz stoisch im Vorraum.  

Steffi nimmt den Nachwuchs mit, ihr Hauptgeschäft ist die Vermittlung von in Perückenbenutzung versierten Rentnerinnen mit Spaß an krauser Performance.

Als Teich getarnt, steht ein Bassin im Hinterhof. Es gibt das Campingstuhlensemble und den kaputten Grill und eine Fassadenbegrünung, die sich im Herbst dramatisch rötet.

Seelisch ergraut

Steffi kommt aus Bad Soden und ist normal geblieben. Sie hakt nicht in die Luft, um etwas in Anführungszeichen zu setzen. Sie bearbeitet Anfragen für leicht schräg und ein bisschen witzig. Die Gewissheiten ihrer Eltern wird sie vielleicht nie entbehren müssen. Im Vorderhaus steckt das Willie‘s. Broker:innen schreien da ihren Siegeswillen heraus. Ihr Sport ist Rugby. Manchen reicht es mit der Trainingstasche in die Kneipe zu kommen.  

Für den Traditionswimpel ist Willie zu lang im Geschäft. Nebenbei modelt sie in der Regie von Steffi. Steffi und Willie waren zur gleichen Zeit auf der Bockenheim Süd (Max-Beckmann-Schule).

Die seelisch ergraute Ex-Gesamtschülerin Charlotte rauscht mit Schminkkoffer auf. Laut eigener Angabe viersprachig sowie einem soliden Stand hauptberuflich zugehörig, zeigt sie eine verstörende Bereitschaft zur Kooperation mit der routiniert erniedrigenden Steffi. Den Ursprung der Verfügbarkeit vermutet Einar in einem Hoffnungsschlund, in den er nicht gucken will. Der Kamera schenkt Charlotte das Lächeln einer Verliebten, da Steffi es von ihr verlangt.  

Glamour und Kahlschlag

Im Park wird eine Treppe zur Rampe umgebaut. Mit den Arbeiter:innen erreicht der Stadtlärm den Strand (in der Sprache der Eingeschweißten heißt so - seit dieser Saison - der Streifen zwischen Khans Kiosk und dem Kinderspielplatz). Frauen in weißen Kleidern erscheinen wie Sektenschwestern, obwohl sie sich wahrscheinlich nur einem schönen Tag gewachsen zeigen wollen.  
Ein Bläserquartett stellt sich auf. Ein Stadtstreicher mit dem Einar in der Anstalt (Musterschule) war, schnürt vorüber. Er lässt Einar an eine verletzte Hyäne denken. Zeichen der Zerstörung verwandeln sich an Ort und Stelle in Merkmale kurz vor Eigenschaften.  

Im Schlepptau erwachsener Fahnenträgerinnen spielen Kinder Blindekuh. Willie tritt mit Gefolge auf. Marion kreuzt auf, Einar hat schon ein Getränk für sie in kühler Vorhaltung. Wir wollen heiraten und Kinder kriegen, wurde bereits gesagt. Die Schutzlosigkeit einer Achsel, Einar vertieft sich in die falsche Frau. Marion greift über den Tisch.   

„Wenn es um die Familie geht, kennst du keine Verwandten.“ 

Der Satz fällt hinter Marion und Einar. Einar muss sich nicht umdrehen, um die Sprecherin als seine Nichte zu identifizieren. Valeries Familiensinn trudelt im Extremismus. In ihrem Familienpatriotismus lässt sie sich nicht übertreffen.

Einar dreht sich dann doch um und betrachtet Valerie und Hannes in der Isolation extremer Vertrautheit. Alle Stücke und Folgen sind Liebesnotwendigkeiten, die Valerie Hannes abverlangt. Wieder fragt sich Einar, warum die beiden kein Ehepaar geworden sind. Cousin und Cousine wie bei den Türken.  

Über Tische hinweg besprechen Leute Glamour und Kahlschlag in einer Frisur. Einar registriert einen Greis in fiebriger Erwartung. Auf wen man so intensiv warten kann, wenn man erst mal über fünfzig ist? Frauen fallen über Säuglinge her. Sie laden volle Beutel auf einen Tisch. Eine trübe Tasse als Person möchte den Scheiß beim Abräumer abgeben. Der Abräumer wendet sich mit Grausen, er flüchtet in eine Rückholaktion von Gläsern.  

Für noch ein vorletztes Getränk ist Marion fast schon zu haben. Im Rausch verlegt sie den Park zu den Kuhweiden ihrer Eltern in einer niedersächsischen Einöde.   

Wie gut sich Apfelschnaps mit Grauburgunder verträgt. 

„Jens wollte immer nur seins, aber wenn ich dann meins“, sagt Marion. Jens dreht gerade auf einem Berg in der Schweiz, so dicht sind wir am internationalen Filmgeschehen. 

Jetzt lautet die Frage: Ist Schabracke nur ein Schimpfwort oder kann Schabracke im Einzelfall ... Gern gestellt werden Fragen dieser Güte von Valerie, doch hat sich heute Lila erbarmt. Richtig, unsere Lila, die frühere Rosa, der um 1990 beinah ein Plattenvertrag angeboten worden wäre.

„Schabracke geht schon“, behauptet Marion aufgeräumt. Ihr entgeht, dass niemand nach ihrer Meinung gefragt hat. Marion ist noch nicht lange genug mit Einar zusammen, um einen garantierten Anspruch auf Gehör im erweiterten Familienkreis zu haben.

Hustendes Gras

Charlotte und Einar, noch weiß es keiner. Schon morgen werden es alle wissen. Alles Heimliche wird breitgetreten und klein geklopft und in den Kies geharkt. Auf den Nebenwegen, den Spielplätzen und Höhleneintrittsstellen, zwischen geparkten Autos, in den Gärten, auf den Friedhöfen, vor mythischen Wasserhäuschen so wie im Wasserwerk, hört man überall das Gras husten. Dazu bald mehr.