„Unbelastet von den hundert Fesseln, die eine … gute Erziehung dem Handeln vieler Menschen anlegen, bewegte (sich Don Calogero) im Urwald des Lebens mit der Sicherheit eines Elefanten.“ Giuseppe Tomasi di Lampedusa, „Der Leopard“
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„Ich habe seit zwanzig Jahren keine Zeitung mehr gelesen. Wenn ich wissen will, was los ist in der Welt, höre ich Mozart.“ Ralf Rothmann
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„Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du auf dem gleichen Fleck bleiben willst.“ Lewis Caroll, „Alice hinter den Spiegeln“
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„Je déteste les charlatans et vendeurs de rêves, j’ai l’esprit ouvert mais dans la limite du raisonnable - Ich hasse Scharlatane und Traumverkäufer, ich bin aufgeschlossen, aber im Rahmen des Möglichen.“ Camille Joun, Quelle
Ostsee © Jamal Tuschick
Biermann-Petition
Der Schauspieler Klaus Manchen ist ein leidenschaftlicher Reiter; die Hippologie sein Steckenpferd. Jeden Morgen um sieben schwingt er sich in einem vergangenen Jetzt in den Sattel. Das ist ein Roman für sich.
Eines Tages tritt der gleichfalls reitende Hilmar Thate mit der Biermann-Petition an Manchen heran. Man steht in Reitstiefeln „vor der alten Sattlerei“, die zu dem Hof gehört, den Manchen zu seinem Freisitz gemacht hat.
Manchens Biermann-Geschichte hat zwei Kapitel. Im ersten Kapitel ist Biermann ein guter Mann und schlechter Sänger. Im zweiten ist er nur noch unerträglich.
Manchen zu Thate:
„Für Biermann riskiere ich meine Karriere nicht.“
Die Reitstiefel der Tante
Mit neun passten ihr die Stiefel einer Tante, die Turnierreiterin war. Ein Raum im Haus der Verwandten war Trophäen vorbehalten. Ein weitergereichtes Paar trug Aniela voller Stolz, solange es eben ging. Daran denkt sie im Darßer Urwald. Sie bricht ihren Schwur am Saum der ursprünglichen Uferlinie, wo vor dreitausend Jahren (bis zu einem Strömungsumschwung) Ostseewellen aufliefen.
Aniela betrügt ihren Mann mit seinem besten Freund in einer Galerie vom Wind gedrückter Kiefern auf dem Kliff. Sie sieht malerisch gewachsene Buchen, Fichten, Eiben, Lärchen, Douglasien und Erlenbrüche. Das Wasser steht im Unterholz wie in den Everglades.
Aniela und Raimund wuchsen auf dem Blankenfelder Gestüt auf. Auf der anderen Seite der Grenze lagen in Sichtweite die Reiterhöfe von Lübars. Jedes Jahr verbrachten Anielas und Raimunds Familien die Sommerferien an der Ostsee auf dem Campingplatz von Prerow. Den Schauplatz ihres Stelldicheins kennen Aniela und Raimund beinah von jeher. Nach ein paar Post-Wende-Experimenten auf Mallorca und Sonst-wo kehrten Aniela mit ihrer Familie und Raimund mit seiner unabhängig voneinander und erklärtermaßen für immer zurück zu ihren ostdeutschen Urlaubsparadiesroutinen.
Gemütliche Schamlosigkeit
Aniela und Raimund waren auf keiner Montagsdemonstration. Sie beschwören das Glück einer sozialistisch soliden Kindheit. Sie beschäftigt die Idee von der nicht so populär gewordenen Fassung einer Legende, deren Standardversion zur Tapete heruntergekommen ist. Alles dreht sich um die verlorene Zeit.
„Die ersten vier Jahre führte ich ein privilegiertes, geradezu heidnisches Leben.“ John Burnside
Die eigenen Kinder tun ihnen leid, während Aniela und Raimund an den Stäben ihrer Ehen rütteln und die Stabilität ihrer Verhältnisse strapazieren.
„Abschweifungen sind unleugbar der Sonnenschein - das Leben, die Seele der Lektüre.“ Laurence Sterne
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„Ich möchte‘ in meinen eig‘nen Versen/mich verstecken, /Damit, wenn Du sprichst, ich deine Lippen küsse.“ Abdu‘r-Raḥmān-i Dschāmi
Irgendwo sagt Heiner Müller, sobald der Ethnologie Genüge getan wurde, stirbt der erforschte Stamm aus. Sind Aniela und Raimund nicht bereits Ausgestorbene mit mumifizierten Seelen und nachgerüsteten Laufwerken? Eine Jenseitssensation in der Fotofalle. Ein Informationsstreifen liefert zu jeder Wildkameraaufnahme das Datum und die Uhrzeit.
„Der Zweck macht den Stil … und das Schlimmste, das man machen kann, ist, etwas das keinen Zweck mehr hat, noch zu halten, weil es einmal schön war.“ Bertolt Brecht
Raimunds Steckbrief vermerkt vorspringende Schlüsselbeine, einen steinernen Thorax. Brustwolle auf dem Tonnengewölbe. Das Gestockte und Verstockte des Gedrungenen. Anielas olfaktorische Noten spreizten einst Düfte des Ostens. Wer erinnert sich noch an Rumbo und Venezia?
Die ferientäglich-kollektive Beobachtung des Sonnenuntergangs am Strand. Das baltische Licht. Die besondere Ostseebräune als Markenzeichen. Eine Vergleichsmenagerie vom Reh bis zur Gazelle. Das Siesta-Luxus-Steilwandzelt aus dem Zentralen Warenkontor (ZWK) Möbel/Kulturwaren/Sportartikel.
Raimund ist Anielas Zeuge seit 1977. Er sah sie heranwachsen und Gestalt annehmen. In den notorisch nackten Ferien erfreute Anielas grazile Ungezwungenheit die Spießerriege der Väter. Sie regierten die gemütliche Schamlosigkeit, so wie sie regiert wurden. Mit Pepitahut und Schmerbauch beschworen sie eine Gemeinschaft, die von Bedingungen abhing, die den Nachwuchs nichts angingen. Die Väter mussten Zeltscheine besorgen und sich den Platzherrn warmhalten. Sie sorgten sich um jede Verlängerung einer Exklusivität, die man auch als freiwilligen Primitivismus erleben konnte.
Genügsamer Austausch
Ein genügsamer Austausch bestimmte Raimunds Liebesanfang. Der FDJ-Eleve nahm, was sich ihm bot. Es war wie Essen in der Pubertät; ein uferloses Unterfangen. Aniela fühlte sich von Raimunds Begehren nicht angesprochen. Ihre Helden sah sie nur an der Ostsee. Raimund begegnete ihr alle Tage. Sie überging ihn in seiner ewigen Gegenwärtigkeit. Für sie war er einer, der sich zwar nur für Sport interessierte, aber trotzdem nicht anständig Reiten konnte. Ihr Anfang vollzog sich ohne Vorlauf unter den Farnen der Polyamorie. Aniela hatte dem fahrlässigen Treiben abgeschworen. Die altbackenen Begriffe ihrer Gegenwart peppt eine Erinnerungstransfusion. Aniela und Raimund sind Geysire füreinander.
„Eine kleine Stille kam zwischen uns, so präzise wie ein an der Wand hängendes Bild.“ Jean Stafford
„Nur Schwachköpfe kehren ... von Niederlagen ruhmvoll heim“, schreibt Michel de Montaigne. Als Junge wichste Raimund gern auf Unterholz. Jetzt wünscht er sich die Freiheit des Vierzehnjährigen. Aufs Fahrrad und weg.