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2023-03-05 10:45:16, Jamal

„Seit mehreren Jahren wird die Bevölkerung in Russland überall auf Krieg eingestimmt.“ Galia Ackerman

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„Das derzeitige Russland ist ein sozial primitiver Organismus, der nach dem postsowjetischen Verfall beinah in die Steinzeit abgerutscht ist und dadurch im Falle einer weltweiten Katastrophe eine erhöhte Überlebenschance besitzt.“ Mikhail Delyagin

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„Mit jedem Jahr seit der Annexion der Krim wurde mir klarer, dass … (Russland) seine Zukunft verliert.“ Assja Kudrjawzewa

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„Man muss sich entscheiden: Entweder man kapituliert, oder man wehrt sich“, erklärte Egidijus Papečkys. „Wir werden uns auf jeden Fall wehren, denn wir wissen, dass die Verluste so oder so die gleichen sein werden.“ Aus der FAZ vom 12.03.2022, Quelle

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„Eine militärische Supermacht, die das Leben auf der Erde hätte auslöschen können, verschwand einfach wie das Trugbild eines Illusionisten.“ Ivan Krastev/Stephen Holmes

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„Wir … übernehmen die wesentlichen Grundsätze der Demokratie, aber diese Grundsätze müssen den Traditionen Russlands angepasst werden.“ Putin 2005 bei einem Treffen mit George W. Bush; zitiert aus „Schwarzbuch Putin“, herausgegeben von Galia Ackerman und Stéphane Courtois

Vorbemerkung

Der Koloss Sowjetunion implodierte. Beim Rüstungswettlauf war der UdSSR die Luft ausgegangen. Auf die Kondition des schwächelnden Riesen waren Wetten abgeschlossen worden. Der Zynismus, mit dem man „das Reich des Bösen“ (Reagan) in die Knie zwang, prägte die russische Wahrnehmung des Westens.  

In ihrer Abrechnung „Das Licht, das erlosch“ finden die Soziologen Ivan Krastev und Stephen Holmes keine Erwartung gründlicher enttäuscht als die Vorstellung, der erodierte Ostblock verhielte sich wie das arme, aber willige Blumenmädchen Eliza Doolittle in G.B. Shaws Lehrstück „Pygmalion“ und übe gegenüber dem selbstherrlichen Professors Henry Higgins aka Mister West Ergebenheit. Stattdessen „bekam die Welt eine Bühnenfassung von Mary Shelleys Roman Frankenstein zu sehen“.  

In ihrem Aufsatz „Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins Ingenieure der Seele“ beleuchtet Françoise Thom die Folgen einer Entfesselung des sowjetischen Propagandaapparats nach dessen Befreiung vom kommunistischen Ballast. Die Historikerin spricht von einer „Umerziehung (der postsowjetischen Bevölkerung) zum Schlechteren“. Die Herrschaftssprache sei längst „losgelöst von jeglichem Anspruch auf Wahrheit“. Die Eliten überböten sich in menschenverachtenden Einlassungen. Der Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands Alexander Geljewitsch Dugin habe zum Genozid an der „Bastardrasse“ der Ukrainer:innen aufgerufen.

„Der Putinismus hat den systemischen Sadismus des Stalinismus übernommen.“ Igor Jakowenko 

Putins Ausdrucksweise stiftete „sprachwissenschaftliche Untersuchungen“. Das überliefert Yves Hamant in seinem Aufsatz „Putins Jargon: Markierung einer Lebenseinstellung“. Der französische Russlandkenner bilanziert: Putin orientiere sich nicht allein an dem - mit verkappten Beleidigungen und Mehrdeutigkeiten jonglierenden - Jargon des organisierten Verbrechens in der russischen Spielart. Vielmehr fördere er in seiner Sphäre ein Verhalten, dass der Journalist Juri Martschenko bereits 2015 als „Diplomatie der Hinterhöfe“ anprangerte. Die westeuropäischen Emissäre stünden dem archaischen Aushandlungsstil hilflos gegenüber. Niemand hat sie auf den russischen Revolverstil vorbereitet. 

Zitiert aus „Schwarzbuch Putin“, herausgegeben von Galia Ackerman und Stéphane Courtois

Die Verlogenheit des Westens

ist das Kernstück jeder russischen Kritik.     

Das Zukunftsdesign der EU sowie der NATO gestalten Gesellschaften, die nach dem Ende des Warschauer Pakts - in einer „Parade der Souveränitätserklärungen“ (Michael Thumann) - ihre Unabhängigkeit erlangten. Sie verstehen nicht, weshalb der alte Westen auf den Ohren sitzt. Im Mai 2022 fand die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Irina Wereschtschuk deutliche Worte: „Warum wurde Nord Stream 2 gebaut, warum (hat Deutschland) … nicht auf Polen, die Ukraine, Litauen, Estland gehört, die Länder, die Sie gewarnt haben, dass es bei Gas und Öl für Putin um Politik geht, nicht um Wirtschaft?“ Die ukrainische Regierung habe immer davor gewarnt, dass Putin Deutschland „manipulieren“ würde. Aus der WELT vom 04.05. 2022, Quelle

Michael Thumann skizziert „die verhängnisvolle Linie von den polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts über Rapallo bis zum Bau der Nord-Stream-Pipelines“. Wladimir Putin habe Gerhard Schröder auf „die Rohrleitung unter der Ostsee“ gehoben. Donald Trump kommentierte: „Deutschland ist Russlands Gefangener“ - in der Konsequenz einer weitreichenden Energieabhängigkeit. Olaf Scholz sprach noch im Februar 2022 von dem privatwirtschaftlichen Charakter eines Staatsvorhabens nicht allein in der russischen Lesart. „Strategische Ambiguität“ hieß auf Politikdeutsch der letzte Versuch, „ein unmögliches Projekt“ zu retten.  

Michael Thumann „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“, Analyse, 287 Seiten, C.H. Beck, 25,-

Der zweite russische Tschetschenien-Krieg lieferte 1999 die Blaupause für Putins Restitutionspolitik im Geist sowjetischer und zaristischer Erzwingungen. Schon damals gab es „keinen nachvollziehbaren Anlass für einen großen Krieg“. Der Rebellenführer Schamil Salmanowitsch Bassajew avancierte im Konfliktkontext zum meistgesuchten Terroristen Russlands.

„Wenn Du Wert darauflegst, Deinen Bekannten das Neueste aus dem Kaukasus zu berichten, so kannst Du erzählen, dass ein gewisser Hadschi Murat, die bedeutendste Persönlichkeit nach Schamil, sich vor einigen Tagen der russischen Regierung unterworfen hat. Das war der forscheste Kerl (ein Dshigit von der ganzen Tschetschma), und doch hat er die Gemeinheit begangen.“ Leo Tolstoi an seinen Bruder, Tiflis, 23. Dezember 1851, Quelle

Putin begründete den Feldzug mit einer „Aggression des internationalen Terrorismus gegen Russland“.

Thumann besichtigte Grosny im Februar 2000. Die Stadt war ein Trümmerfeld.

„Grosnys Zentrum war ausgelöscht.“

Siebzehn Jahre später besuchte Thumann die tschetschenische Kapitale zum zweiten Mal. Putins alimentiertes Vasallenregime residiert im Schatten von Wolkenkratzern. „Nachts fangen die Türme an zu leuchten und zeigen Spruchbänder mit Koran-Suren.“

„Die Stadtherren (hatten sich) entschieden, die Ruinen des Zentrums komplett abzuräumen.“

Putins Statthalter Ramsan Achmatowitsch Kadyrow versorgt seinen Herrn vor allem mit „Feuerkraft“.

Der russische Standpunkt

Unter der Kapitelüberschrift „Informationskrieg. Wie die Russen aufgehetzt werden“ schildert Thumann die Rolle der russischen Medien und ihrer Motoren. Er betont die Macht der Narrative im hybriden Krieg, der nicht zuletzt mit dem digitalen Standardequipment auf Social-Media-Kanälen stattfindet. Diplomatische, wirtschaftliche und eben mediale Mittel flankieren Armeeeinsätze nicht nur. Sie unterliegen nicht bloß der militärischen Deutungslogik im Rahmen der Nutzung ziviler Logistik. Vielmehr sind sie Module im „Informationskrieg“.

„Wir machen kein Geheimnis aus der Tatsache, dass wir ein russischer Sender sind - selbstverständlich sehen wir die Welt vom russischen Standpunkt aus. Wir sind in dieser Hinsicht sehr viel ehrlicher.“ Margarita Simonowna Simonjan, Quelle

Margarita Simonowna Simonjan zählt zu Putins prominentesten Informationskriegerinnen. Als Schülerin gewann die Chefpropagandistin ein Amerika-Stipendium. Der Realitätscheck habe desillusionierend gewirkt und in ihrem Fall die Fama vom Goldenen Westen zerstört. Trotzdem lernte Simonjan die Unabhängigkeitserklärung auswendig.

Simonjans, 2022 verstorbener Kollege Wladimir Wolfowitsch Schirinowski, erklärte die ukrainische Bevölkerungszusammensetzung so:

„Es gibt dort zwei verschiedene Völker. Auf der einen Seite die Russen und russifizierte Ukrainer, auf der anderen die Westler, die in den zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten gelebt haben.“

Thumann nennt Elemente der Staatspropaganda: „Zynismus, Schadenfreude, Apokalyptik“. Das „Hauptquartier der Informationskrieger“ von „Russland heute“ ist eine graue Betonzeile; „sowjetischer Brutalismus“ auf der Länge eines halben Kilometers. Vor einem Besuch der Propagandazentrale wurde Thumann einem rigiden Kontrollprocedere unterworfen, wie beim Betreten einer „Armeekaserne“.  

Der trutzigen Fassade zum Trotz gleicht das Innenleben dem Designfuturismus der „CNN-Zentrale in Atlanta“. Es gibt Cafés, Restaurants und ein Fitnessstudio. Dazu bald mehr. 

Aus der Ankündigung

Kaum einer kennt Russland besser als Michael Thumann, der seit über 25 Jahren aus Osteuropa für die ZEIT berichtet. Er legt nun ein atemberaubend geschriebenes Buch vor, das Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nachzeichnet. Das Motiv des Diktators und seiner Getreuen: Revanche zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991 und die vermeintliche Demütigung durch den Westen. Putins Herrschaft radikalisiert sich weiter. Es ist das bedrohlichste Regime der Welt.

Zum Autor

Michael Thumann ist Außenpolitischer Korrespondent der ZEIT und lebt in Moskau. Seit den 1990er Jahren berichtet er für die ZEIT aus Russland, Osteuropa und dem Nahen Osten. Seine Artikel, Podcasts und Bücher über Russland als Vielvölkerstaat und den neuen Nationalismus Putins haben unseren Blick auf dieses Land erweitert. Russland kennt er schon aus Studienzeiten, als er unter anderem an der Moskauer Lomonossow-Universität studierte.