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2023-03-06 11:08:50, Jamal

Irritierender Horizont

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„In Kampen lag sie gern nackt in den Dünen.“ Siegfried Müller über Valeska Gert

„Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie mit mir sprächen.“ Adorno in einem Brief an Thomas Mann

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„Diejenigen Deutschen aber, die als Geschäfts- und Lebemenschen bloß aufs Praktische gehen, schreiben am besten.“ Goethe 1824 im Gespräch mit Eckermann

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„Als nämlich die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu mächtig, und um mich zu balancieren, mussten sie sich nach einem Talent umsehen, das sie mir entgegenstellten. Ein solches fanden sie in Tieck, und damit er mir gegenüber in den Augen des Publikums genugsam bedeutend erscheine, so mussten sie mehr aus ihm machen, als er war. Dieses schadete unserm Verhältnis; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es sich eigentlich bewusst zu werden, in eine schiefe Stellung.“ Goethe 1824 im Gespräch mit Eckermann 

© Jamal Tuschick

Nächtliche Wochenmärkte

Traktors Porsche steht vor dem Haus, das stimmt Goya heiter. In ein paar Monaten wird Traktor sich hinter Goya bei den Nieten einreihen, die Sprotte blind gezogen hat. Goya wird dann noch viel weiter vor ihm in der Reihe stehen, verheiratet vielleicht mit Tanja, aber verliebt bestimmt für immer in Sprotte. 

Tanja entscheidet sich für die kurze Jacke mit dem Verschlussdefekt. Sie beschallt den Raum ihrer Vorbereitung mit Element Of Crime. Heute Abend wollen Goya und Tanja zu Santana in die Festhalle.

Plötzliche Erregung durchkreuzt den Aufbruch. Bloß nicht fackeln. Schon streckt Tanja ihre Arme zur Kante, wo ein Rahmen sein könnte. Das ist auch so eine Sache, Goya glaubt, dass Tanja sich gerade etwas vorstellt, was in ihrem Leben mit ihm nicht vorkommt.  

Zwei Tage später

Das Paar sitzt beim Mensch-ärgere-dich-nicht auf dem Balkon. Der vegane Hund der Steuerberater inspiziert den Hof in Begleitung von Kindern aus dem Haus. Über die Spielfiguren hinweg analysiert Tanja Romanfiguren. Ihre Enttäuschungen verwandeln sich in einer spiraligen Herkunftserzählung zu einem Nebeltext. Für Goya summieren sich die Frankfurt fernen Details zu Irrlichtern über einer Last-Exit-Landschaft. Er sieht immer nur Tanjas Vater, den er zum Glück nur vom Hörensagen kennt, als Passagier in einem Bus voller Schüler- und Rentnerinnen zur Arbeit fahren. Der Mann ist weit und breit der einzige ohne eigenen PKW. Der Nachwuchs kennt Väter nur als Autofahrer. Die alten Frauen verachten den Außenseiter, ohne sich dabei erwischen zu lassen.

Einer seiner Brüder haust in der Friedhofsbaracke. In den meisten Schoten, die Tanja verzapft, erscheint der Onkel als Zausel von undurchdringlicher Einfalt. Seit einer Schießerei in Hamburg humpelt er. Tanja verdankt ihm alle möglichen Fertigkeiten. Er brachte ihr bei, wie man trinkt, ohne zu schlucken, melodisch rülpst und Kronkorken mit dem Feuerzeug vom Flaschenhals löst. Tanja nutzte seine Baracke als sturmfreie Bude für Komasaufexzesse. Goya ahnt eine abgründige Dimension. Eine Initiation zwischen antiken Grabsteinen und frischem Aushub. Etwas Unerhörtes kurz vor Schwur, Mord und neolithischen Artefakten.

Vielleicht rührt die Ahnung vom Wunschdenken.

Tanja ist Goyas erste Freundin, die es ohne Angst vor Peinlichkeit krachen lässt. Im Feierfuror platzt sie machomäßig aus allen Nähten des guten Geschmacks und der ausgewogenen Ernährung. Goya entgehen die Seitenblicke nicht, mit denen seine Reaktionen geprüft werden. Die Frage lautet: Gibt es ein zu geil?  

Noch verhehlt sich Goya ein Unbehagen.  

Tanja errichtet sich nach Maßgabe ihrer Rückenschule. Die Akkuratesse will nichts. Sie ist bloß ein Fluch des ewigen Yogas.

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Leute der konfessionellen Fürsorge tagen im Hof. Die Sozialarbeiter:innen sind Drogenexpert:innen mit Drogenproblemen, fragt man Goya. In seiner Lesart des Lebens ergänzen sie den lokalen Bodensatz mit ihrer abstaubenden Art.