„Vor zwei Millionen Jahren, gewann das menschliche Gehirn ein großes Zellbündel hinzu.“ Bill McKibben, siehe auch hier.
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Sehen Sie auch hier.
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„Die für die Steinzeit optimierten Anteile unseres Gehirns steigen bei Stress, Gefahr und Angst quasi unaufgefordert auf den Fahrersitz und übernehmen das Steuer.“ Maren Urner
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„Das Material bestimmt die Gestalt. Blech und Draht haben die höchsten Freiheitsgrade.“ Eberhard Fiebig
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„Style is knowing who you are, what you want to say, and not giving a damn.“ Gore Vidal
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„Die Atzeken opferten so (angestrengt) wie wir arbeiten.“ Georges Bataille
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„Ich hatte sehr wenig mit der Generation gemein, deren Stimme ich sein sollte.“ Bob Dylan
© Jamal Tuschick
Ökumenische Selbstentleibungen
Kressin schleust Steffi durch ein von Antoni Gaudís Park Güell in Barcelona inspiriertes Scherbengericht der verdämmernden Moderne. Das ist ein keramisches Feuerschlucker:innen-Kunstgewerbe-Ensemble zwischen Tierkreiszeichen und Fabelwesen. Es fehlen nur Dalís zerlaufene Brillen als Mosaike.
Du kommst mit dem Zug an, eine Station zwischen Böschungen im Stil des Weltendes, trittst vor den Bahnhof eines Kaffs und prallst auf dem Vorplatz gegen Weltstadtflughafenkunst. Im Wirkungsschatten des Spektakels entern Steffi und Kressin den Aufgang zur Bahnhofsgalerie. Musterabsolventinnen der Schwarzenegger Academy bewachen alttestamentarisch-drakonisch den Eingang. Die ehrgeizig gestalteten Einladungen, mit denen Kressin vor ihren Nasen herumwedelt, veranlassen sie dazu, den Raum zwischen sich geringfügig zu vergrößern. In einer Gesellschaft, in der es auf Sekunden und Zentimeter ankommt, macht Kressin die Zugänglichkeit der Hüninnen zum Sieger plus 1. Eine illegal eingewanderte, inzwischen geduldete Guatemaltekin steht als Garderobiere herum. Sie stammt aus der Gegend des großen Einschlags, der die Menschheit als mausgroße Nager:innen ins Rennen geschickt hat. Die Chance von Yucatán - auf ihrer Theke steht ein leerer Trinkgeldbecher. Ihr Kleid erinnert Kressin an Hausschuhe der Mutter. Er sieht Spielarten von Grausamkeit und Kitsch.
Zwischen leblos und lieblos liegt nicht viel. Die Guatemaltekin hat für ihn den blanken, wie ausgetrunkenen Blick der Verwünschten. Plötzlich rauschen Urängste an, du vernimmst Dschungel- und Vogelfluggeräusche, obwohl keine Vögel ziehen.
In die Bahnhofsgalerie hält die Crème de la Crème von H… Abstand zum Volk. Die örtlichen Filmfestspiele sorgen jedes Jahr für einen Aufstand in einer Stadt mit knapp unter zehntausend Einwohner:innen. Den zugezogenen Besserverdienenden bleibt unbegreiflich, dass nur die schlechtesten Schauspieler:innen und mediokersten Regisseur:innen zum Zug kommen und dieses hochtrabende Elend dann auch noch von wahnsinnigen Feuilletonist:innen zur großen Sache erklärt wird. Im Kulturkampf stehen sich zwei Parteien unversöhnlich gegenüber. Auf der dominanten Seite agieren/agitieren/fintieren - ebenso verbohrt und verdreht - Sarah Gerster, ihre Tante, unsere Bürger:innenmeisterinnen Luise Gerster, der kriminelle Filmfreak Palermo Gramsci und ein paar reaktionäre Ü70-Revolutionäre, die alles gut finden, was die grün-veganen Eigenheimspießer:innen und Hofladenfetischist:innen die Wände hochgehen lässt.
Zu den inferioren Spinner:innen auf der Gegenseite später mehr.
Die internationalen Gäste lassen auf sich warten. Die lokale Prominenz ist aber bis auf die letzte Heulerin am Start, um allen klarzumachen, wo, wer und was oben ist in H... Heimtückisch hakt sich Grandma Gerster bei Steffi ein. Kressin ist einer ihrer Großneffen. Die Greisenperformance irritiert ihn. Nordhausen hält Kressin handfest davon ab, Steffi aus den Fängen der rabiaten Ahne zu retten. Der evangelische Pfarrer lebt in der Diaspora. Irgendwer erklärte den evangelischen Pfarrhaushalt zum Hochofen des deutschen Geistesadels. Gudrun Ensslins Vater war protestantischer Pfarrer. Carl von Linde, Karl Friedrich Schinkel, Friedrich Nietzsche und Benjamin von Stuckrad-Barre waren oder sind Pfarrerskinder. Im öko-pazifistischen Weltrettungsfieber überhitzte Zugezogene zwingen Nordhausen zu ökumenischen Selbstentleibungen. Als Sohn eines Protestanten, der im Katholizismus seinen Frieden fand, weiß Kressin, wohin für Nordhausen die Reise geht. Der Pfarrer hat die blauhäutigen Schüttler:innen aus dem Goldenen Grund in seiner Gemeinde. Das gibt dem Sprengel etwas von einer Leprastation.
Der Nachwuchs wünscht sich konsumorientierte, schreiend markenbewusste, endgeile Versorger:innen. In H… gibt die konfessionell gefestigte Jugend den Ton an. Sie prahlt mit ihrem Glauben und bringt Meister:innen im Rodeo der gesetzlosen Plakatierung hervor. Die Plakate annoncieren sakralpopuläre Musikereignisse, denen man vor ein paar Jahren außerhalb der Munizipalität Würzburgs noch keine Zukunft geweissagt hätte.