Teresa Simon trifft jeden Nostalgienagel auf den Kopf. Die Zeitmarken sind exakt gesetzt. Mit Liebe zum bayrischen Detail beschwört die Autorin Stimmungen der jungen Bundesrepublik zwischen Adenauer-Restauration und gesellschaftlichem Aufbruch.
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Zwischen Twist und Zwist
Seit Kriegsende tobt sich im „Kolibri“ der progressive Zeitgeist aus. Lokale Interpret:innen amerikanischer Moden durchliefen in dem Münchner Tanzlokal die Grundschulen des Swings und des Rock’n’Rolls. In der Handlungsgegenwart anno 1962 ff. dient das verschlissene Interieur dem Twist als Kulisse. Zu Chubby Checkers Aufforderung Come on everybody clap your hands geht die solide sozialisierte Marie-Louise Graf zum ersten Mal öffentlich aus sich heraus. Animiert wird sie von ihrer Freundin Roswitha ‚Roxy‘ Bertram, die mit folgender Weisheit aufwartet:
„Wozu hat der liebe Gott dir Bürste geschenkt? Damit du sie präsentierst!“
Marie hinkt dem eskapistischen Elan der Freundin hinterher. Noch erfüllt sie die Erwartungen ihrer Eltern beinah auf der ganzen Linie. Sie studiert Pharmazie mit dem verordneten Ziel, in ferner Zukunft die Familiendrogerie weiterzuführen. Dabei brennt Marie für ein anderes Metier. Sie will Reporterin werden. Heimlich hat sie sich an der 1949 von Werner Friedmann gegründeten Deutschen Journalistenschule beworben. Erst die Absage macht Maries Absichten im Familienkreis ruchbar.
Teresa Simon, „Die Reporterin - Zwischen den Zeilen“, 1. Band der Romanreihe „Die Reporterin“, Heyne Verlag, 12,-
Die Autorin trifft jeden Nostalgienagel auf den Kopf. Die Zeitmarken sind exakt gesetzt. Mit Liebe zum bayrischen Detail beschwört Teresa Simon Stimmungen der jungen Bundesrepublik zwischen Adenauer-Restauration und gesellschaftlichem Aufbruch.
Marie und Roxy suchen den Puls der freistaatlichen Kapitale in Schwabing. Den Soundtrack zu einer Bekanntschaft mit dem rotzfrechen und zechprellenden „Baader Andi“ (Andreas Baader) liefert Conny Froboess. Bei einem Polizeieinsatz im Rahmen der Schwabinger Krawalle* werden die Freundinnen getrennt. Marie folgt einem Fotografen in den Hof der Lach- und Schießgesellschaft. Leicht auszumachen ist die narrative Spur, die hier gerade gelegt wird.
*Fachleute erwägen, ob diese Ausschreitungen im Sommer 1962 zur Radikalisierung Baaders beitrugen.
Mütterliche Manöver
Maries intransigent besorgte, in jeder Hinsicht akkurate Mutter Katrin, vom Gatten als „schlesische Schönheit“ verehrt, findet tausend Kritikpunkte im Lebenswandel der soeben volljährigen Tochter. Teresa Simon orchestriertdie Begleitmusik des Abnabelungsprozesses. Sie schildert mütterliche Manöver, all das Unterlaufende und Hintertreibende, und natürlich auch das Programm auf der Gegenschräge töchterlicher Schliche und Listen.
Marie ergattert ein Praktikum beim Tag. Die Eigenständigkeit führt zu einem Zerwürfnis mit der Mutter. Trotzig setzt sich die Elevin selbst vor die Tür. Als Untermieterin spielt sie Bonjour Tristesse im möblierten Zimmer. Zum Terrorregime der Hauswirtin passt der Nebenjob als Rosenverkäuferin.
In einer Redaktionssitzung begegnet Marie der Fotograf wieder. Siegfried ‚Samy‘ Samtner arbeitet als Freelancer für den Tag. So fürsorglich wie zurückhaltend kommt Sportredakteur Freddy Krenkl seinen Verpflichtungen als Ausbilder nach. Marie verdient sich die ersten Sporen, während die Kuba-Krise und die Spiegel-Affäre für fette Schlagzeilen sorgen.
Dabei ist sie bei einem Interview mit Vera Tschechowa, die gerade in einer bahnbrechenden, den Heimatfilm der 1950er Jahre erledigenden Romanverfilmung** mitgespielt hat. Vera Tschechowa atmet förmlich auf nach all den regressiv-eindimensionalen Produktionen, die wie eine Abreibung mit Schmirgelpapier auf ihr Talent wirkten.
**„‚Das Brot der frühen Jahre‘ ist ein deutscher Spielfilm aus dem Jahr 1962 nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll. Regisseur Herbert Vesely begründete mit dieser Inszenierung den Neuen Deutschen Film.“ Quelle
Vera Tschechowa wünscht sich, dass auch deutsche Regisseure die Chancen der Novelle Vague nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sowohl ihre Mutter Ada als auch ihre Großmutter Olga sind Schauspielerinnen. Hartnäckig hält sich das Gerücht, die Urgroßnichte von Anton Tschechow sei Elvis Presleys deutsche Freundin.
Teresa Simon streift den Fall Vera Brühne. Die eigene Tochter trat gegen Brühne als Zeugin der Anklage auf. Sylvia Cossy alias Cosiolkofsky belastete ihre Mutter vor einem Widerruf. Die „Lebedame“ wurde des Doppelmordes an Otto Praun und Elfriede für schuldig befunden.
„Kein Filmregisseur hätte sich diesen Auftritt wirkungsvoller ausdenken können. Ein hochgewachsenes Mädchen mit blauem Kopftuch und Sonnenbrille durchquert schnell den Saal … Ein salopper, betont forscher, ja, fast sportlicher Start.“ Aus der Süddeutschen Zeitung: „Meine erste Aussage war falsch, sagt Sylvia“. Der Beitrag von Wolfgang Wehner erschien zuerst am 15. Mai 1962 und dann noch einmal am 23. Dezember 2019, Quelle
Sylvia Cossy sonnt sich in der Mediensonne. Sie zitiert den Tag herbei, um eine Stellungnahme abzugeben. Marie verbessert sich beruflich. Sie „bringt die Promis zum Reden“. Die Stars gefallen sich darin, Marie das zu geben, was sie braucht, um publizistisch zu glänzen. Ein Kosenamen ihrer Kindheit avanciert zum Rufnamen: Malou. Malou Graf geht eine Scheinverlobung mit dem schwulen Kollegenfreund Freddy ein. Sie zieht zu ihm in ein Apartment, das ihrem Schwung und Ehrgeiz entspricht.
Das Arrangement steht bald auf dem Prüfstand. Dann wird es tragisch. Ich überspringe das Furchtbare. 1965 ist Malou eine feste Größe im Münchner Nachrichtengeschäft. Bei einer Bambi-Verleihung begegnet sie Pierre Louis Baron Le Bris, besser bekannt als Pierre Brice.
Die 17. Bambi-Verleihung geht am 9. Mai 1965 im Deutschen Museum über die Bühne. Als kassenstärkster Film wird „Winnetou“ ausgezeichnet. Pierre Brice verkörpert den Titelhelden. Winnetous Tugenden sind seine. Malou erscheint der bescheidene Baron als ausnehmend angenehmer Zeitgenosse. Die klassische US-amerikanische Westernperspektive auf die First Nation of America findet er entwürdigend.
Aus der Ankündigung
Mai 1962: Marie Graf ist Anfang zwanzig und lebt ihr Leben so, wie von den Eltern geplant. Heimlich jedoch hat sie einen Traum: Sie will Reporterin werden. Sie will schreiben, informieren, aufrütteln. Als die neu gegründete Zeitung Der Tag ihr ein Praktikum anbietet, kann sie ihr Glück kaum fassen. Doch Marie muss sich jeden Schritt ihres Weges hart erkämpfen, sich gegen egozentrische Kollegen, schwierige Interviewpartner und ihre eigenen Eltern durchsetzen. Dank der Hilfe ihres Mentors beim Tag bekommt Marie die Gelegenheit, Größen wie Pierre Brice und Hildegard Knef kennenzulernen. Aus ihr wird Malou Graf, Gesellschaftskolumnistin. Doch der Erfolg im Beruf hat Schattenseiten, nicht zuletzt für Malous Liebesleben. Und dann ist da noch ein Familiengeheimnis, das alles zerstören könnte, was sie sich so mühsam aufgebaut hat …
Zur Autorin
Teresa Simon ist das Pseudonym der promovierten Historikerin und Autorin Brigitte Riebe. Sie ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale und lässt sich immer wieder von historischen Ereignissen und stimmungsvollen Schauplätzen inspirieren. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin ist bekannt für ihre intensiv recherchierten und spannenden Romane, die tiefe Emotionen wecken. Ihre Romane »Die Frauen der Rosenvilla«, »Die Holunderschwestern«, »Die Oleanderfrauen« und »Glückskinder« wurden alle zu Bestsellern.