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2023-03-16 08:26:34, Jamal

Namenlose Landschaften und idyllische Brachen

Gravitationslose Biografien in namenlosen Landschaften - Leere Räume mit surrealen Säumen - Das assoziiere ich mit Joy Williams‘ amerikanischen Szenen. Die Autorin kombiniert topografische Präzision mit vager Geografie. Eine Siedlung im waldreichen Nirgendwo dient sieben Müttern berühmter Mörder:innen als Refugium. Eine stirbt an Krebs, dann waren es nur noch sechs. Sie erschaudern künstlich, während sie sich erzählen, dass Gegenstände aus dem vormaligen Besitz ihrer Kinder auf Ebay als Devotionalien gehandelt werden. In einem David-Hockney-A-Bigger-Splash-Arrangement leuchten Grapefruits „anmutig zwischen … von Spinnmilben- und Blattlausbefall gekräuselt(en Blättern)“.

Alles verfällt, zerrinnt und löst sich auf. Williams‘ Prosa evoziert eine westliche Vorstadt, so flach wie ein Bildschirm. „Heiter und hohl“ taumelt das Personal durch idyllische Brachen. Im Fokus der Autorin nehmen die Unsichtbaren unter uns Gestalt an.

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„Seine Liebe ist viel zu offensichtlich und weckt Gleichgültigkeit. Er ähnelt einem Tier in einem Wanderzirkus, dass aufgrund einer Missbildung ein lebenswichtiges Organ außen auf der Haut trägt, peinlich und bedauernswert, etwas, dass verborgen bleiben … sollte.“ Joy Williams

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„Gloria fühlte sich hohl und heiter. Nichts war von Bedeutung.“ JW

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„Das Leben der Menschen (erscheint) als Aufstand des Unterbewusstseins … gegen die sozialen und natürlichen Fesseln …“ Vito Pandolfi

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„Ich wusste nicht, dass der Preis/dafür, ein Lied zu/betreten, der Verlust/des Rückwegs ist.“ Ocean Yuong 

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„Die alte Welt liegt im Sterben und die neue Welt kämpft darum, zum Leben zu erwachen: momentan ist die Zeit der Monster.“ Antonio Gramsci

Astrologischer Alarm

Die Autorin schildert Verhältnisse von grotesker Dürftigkeit und notdürftiger Normalität. In der ersten Geschichte holt ein Prediger kurz vor Weihnachten seine Frau (zum Sterben in vertrauter Umgebung) aus dem Krankenhaus. Am Ende seiner Lebenslaufbahn erwartet das Paar nur noch die Tochter der einzigen Tochter. Die Mutter des sechs Monate alten Kindes folgte einem Befehl der Sterne nach Mexiko. Das Baby tröstet die Alten mit seiner schieren Existenz.

Joy Williams erzählt vom leergedroschenen Stroh der professionellen Nächstenliebe. Die amtliche Zugänglichkeit hat den Prediger ausgeleiert wie ein altes Wäschegummi. Widerstandslos seufzt er sich durch seine letzten Pflichten. Joy Williams charakterisiert ihn so:

„Seine Liebe ist viel zu offensichtlich und weckt Gleichgültigkeit. Er ähnelt einem Tier in einem Wanderzirkus, dass aufgrund einer Missbildung ein lebenswichtiges Organ außen auf der Haut trägt, peinlich und bedauernswert, etwas, dass verborgen bleiben … sollte.“

Scheidungsstress

„Der kleine Winter“ - Die Titelzeile der zweiten Geschichte zitiert eine Kindheitserinnerung.

„Als sie klein war, hatten sie an einem Ort gelebt, wo zuerst immer der kleine Winter kam.“

Der „kleine Winter“ war ein Präludium des „großen Winters“. Dazwischen drängte sich eine - manchmal Wochen währende - Schönwetterperiode.

Gloria, 40, memoriert das kurz vor Ende einer langen Anreise zu ihrer Freundin Jean Crawley. Die verregnete letzte Etappe absolviert sie im Mietwagen. Voraus gingen ein Flug, ein öder Hotelzimmerabend mit zu viel Alkohol und ein unerfreulicher Hotelzimmervormittag mit Kopfschmerzen. 

Joy Williams, Stories, übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz, dtv, 25,-

Nach einer Hirntumordiagnose lebt Gloria mit der Aussicht auf ihren Tod in naher Zukunft. Eine übertünchte Depression regiert die Wahrnehmung. In einem Klostersouvenirshop deckt sich Gloria mit einem Gastgeschenk ein. Sie kauft einen vor Ort von Nonnen hergestellten, von dem Mönch am Schalter brachial stumpf angepriesenen Amaretto.

Jean verdaut gerade ihre vierte Scheidung. Sie existiert in (bis zur Klospülung) dysfunktionalen Verhältnissen, die sie dämlich-munter moderiert. Der helle Wahnsinn eines aus den Fugen geratenen Daseins verkleinert sich in Jeans Darstellungen zu geringfügigen Betriebsstörungen.

Die Freundinnen besuchen einen von Jeans Ex-Männern. Bill schnitzt Enten. Gerade geht er von der naturalistischen zur dramatischen Phase über. Er heroisiert die Banalität der Holzarbeiten. Williams schildert eine zwischen handwerklicher Lust und schierer Manie ins Leere ragende Leidenschaft. Offenbar kann in dieser Welt nur etwas Aberwitziges in den Enteignungs- und Entfremdungsprozessen Bestandskraft beweisen. Mich ließ das an einen Satz von Vito Pandolfi denken:  

„Das Leben der Menschen (erscheint) als Aufstand des Unterbewusstseins … gegen die sozialen und natürlichen Fesseln …“

Die Einsicht wäre ein passendes Motto für diesen Erzählband.  

Williams gibt dem Elend einen Drall ins Surreale. Jeans Tochter Gwendal erscheint als Neunmalkluge merkwürdig abgebrüht. Den delirierenden Erwachsenen dreht sie eine lange Nase nach der nächsten.

Keimender Überdruss - Zur dritten Geschichte

Am Ende eines perfekten Sommers reisen Danica Anderson und Jane Muirhead im Autozug von der Ostküste nach Florida. Janes Eltern begleiten die Zehnjährigen, die sich in „chaotischen Nestern“ eingerichtet haben. Die Mädchen stecken in einer komplizierten Freundschaft. Der Überdruss keimt auf beiden Seiten. Auch Mr und Mrs Muirhead streiten „so erbittert wie Vipern“. Sie kultivieren einen „pompösen“ Aushandlungsstil. „Eine dumme Bemerkung von vor fünfzehn Jahren“ lässt sie unter die Decke gehen. Völlig ab geht dem Paar „Nachsicht, Barmherzigkeit und Gemeinschaftsgeist“. Es lebt auf großen Fuß und tröstet sich mit Extravaganzen. Die Muirheads sind einmal nur deshalb nach Mexiko geflogen, um im Panteón de San Fernando „Kacheln für (einen) Vorraum“ zu kaufen oder vielleicht auch zu stehlen. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Eine Nacht lang erkunden zwei Mädchen einen Zug mit Bar und Zauberbühne und lernen dabei ihr künftiges Leben kennen. Eine Frau, ratlos, plötzlich schlaflos, wird von der Faszination für eine nächtliche Radiosendung erfasst, in der, so glaubt sie, all ihre Fragen gelöst werden könnten. Von der Gesellschaft geächtet, schließen sich die Mütter mehrerer verurteilter Mörder zu einem Außenseiterclub zusammen. Seite für Seite, Satz für Satz führen uns diese Geschichten ins Unvorhersehbare hinein, verzweigen sich in die Tiefe wie Romane: unverwechselbar im Ton, beunruhigend und komisch zugleich.

Seit Langem feiert man Joy Williams als eine der Großen der amerikanischen Literatur. ›Stories‹ beweist ihre absolute Meisterschaft.