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2023-03-17 10:07:37, Jamal

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Ich beim Bruchtest vor Jahrzehnten © Jamal Tuschick

Leuchtfeuer der Straße

Woher kommt der erste lyrische Impuls? Aus dem inneren Ohr oder aus dem inneren Auge?

Das Geschrei von Brunst und Frustration auf dem Trottoir. Ein Destillat der Einfachheit steigt auf. „Gedichte sind Gegenstände, die alles aufnehmen können“, sagt Meckel in Schneiders Küche. Inge und Klaus Schneider, hauptamtliche Staatssicherheit, getarnt als Gelehrte und Freunde der lyrischen Intelligenz. Wohnhaft hoch über der Dimitroff.

Mit achtzehn schrieb Meckel hart „am Rand des Sagbaren“. Warum erzählt er das jetzt? Der Alkohol ist aus dem Westen. Inges Anziehungskraft hängt nicht von ihrem Interesse ab, sondern wirkt auch, wenn sie gleichgültig ist. Sie scheint dazu verdammt zu sein, angesehen und bewundert zu werden. Erotischer Magnetismus. Bei so einer hakt man nicht nach. Man legt auf den Tisch, was man hat, und erhofft gnädige Aufnahme. Ich stehe im Zentrum ihrer Gunst. Ihr Glanz strahlt auf mich ab. Ich spüre allgemeine Anerkennung, mit mir muss mächtig was los sein.    

Meckel aus dem Gedächtnis: „Grind, Jubel, Irrsal … Ich werde noch ein Mensch auf der einzig möglichen Seite des Todes … wenn Geschichte erzählt wird als Märchen am unheiligen Morgen.“

Woher kommt der erste lyrische Impuls? Aus dem inneren Ohr oder aus dem inneren Auge? Inge möchte das wissen, wie klug die Frage, die Antwort geht in einem wilden Geschwafel unter. Klaus, Nico für seine Freunde, versteht seine Wohnung als Werkstatt der Zukunft, das sagt er so, später soll noch ein Film gezeigt werden, von Studierenden in Babelsberg gedreht.

„So was habt ihr noch nicht gesehen.“

Inge strahlt mich dringlich an. Die Dringlichkeit verweist auf ein emotionales Dickicht, in dem wir uns angeblich beide verstrickt haben. Nico schwadroniert weiter über den Film, Inge sagt leise: „Ist doch in echt viel schöner, findest du nicht.“ Das ist keine Frage, deshalb gibt es auch kein Fragezeichen.

Dichter in der Werkstatt. Ein weißer Vollmond über den ruhenden Essen im Revier, postalisch Prenzlauer Berg. Für Meckel war einmal „jeder Schriftsteller möglich als Freund“, gern mit holzigem Mangelwirtschaftspapier auf der Walze einer Schreibmaschine. Kurze Reminiszenz an Trümmerberlin, Meckel schaut bei Johannes Bobrowski vorbei. „Ich ging einfach hin“, ihn zu besuchen. Achtung auf beiden Seiten.

„Der Morgen von Tau und Asche kalt“. Meckel, 1935 geboren in Berlin, da nicht geblieben, trägt stehend vor, das ist seine Stunde, fast alle Männer tragen Sachen, die an Mandelstam im Winter erinnern, nur Nico trägt eine Geheimdienstlederweste. Er raucht die Pfeife von Phil Marlowe.
Meckels Gedichte lassen Inge „an Findelkinder ohne Herkunft und Namen, verstörende Wesen in ihrer nackten Existenz“ denken. Das ist nur für mich bestimmt. Meckel spricht über die ersten Kirschen nach dem Krieg in Erfurt, Thüringen ist noch amerikanisch. Ein Fest findet statt, „von so viel Herrlichkeit hatte ich nichts gewusst.“ (Die Russen kamen demnächst um die Ecke.) Sechs Jahre später schrieb er sein erstes Gedicht. Er schrieb es über den Erfurter Kirschbaum.

*

Inge zieht mich an ein Fenster, sie redet über Beaumarchais. Beaumarchais‘ Figaro hatte seine Uraufführung 1783 als Privatveranstaltung mit dreihundert Gästen. Nach Sainte-Beuve „klatschten sie dem Beifall, was sie zugrunde richtete“. Das Schicksal des Kapitalismus, Inge und mir ist das klar, wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte. Soweit es die Spirituosen betrifft, sind Schneiders besser sortiert als manche Bar am Alexanderplatz. Ich registriere einen Vorrat Magnum-Formate im Schlafzimmer. Wein, Whisky, Sekt in 2.5 l Flaschen. Nicos „Werkstatt“ als Flüsterkneipe für die Hauptstadtelite. Nico als Wirt eines DDR-Happy-Few-Speakeasy.
Inge und Nico Schneider, die Ehe besteht dem Vernehmen nach einvernehmlich nur noch auf dem Papier. Man versteht sich ausgezeichnet, Nico hat auf dem Sofa übernachtet. Gerädert und verkatert richtet er den Frühstückstisch, Inge kommt im Bademantel aus dem Schlafzimmer. Nico nimmt sie besitzergreifend in die Arme, sie lässt sich das nicht nur gefallen. Die Szene reduziert mich, gerade geht es nicht um Literatur und um die vorbildliche politische Einstellung eines westdeutschen Sozialisten. Inge schmiegt sich an Nico. In einem Augenblick verliert der Gatte die Beherrschung, die Maske fällt und ich erkenne den Anspruch. Sein Blick folgt meinem, ein Alptraum trägt mich aus der Kurve falscher Gewissheiten. Nichts ist so wie es den Anschein hat. Alles hat einen doppelten Boden, und Nico ein Büro in Hohenschönhausen. Er ist Psychologe und Offizier, Waffenträger und Spitzenverdiener. Zweitausendsechshundert Ostmark pro Monat. Angeblich weiß ich das alles nicht. Wieder einmal frage ich mich, warum niemand sieht, wie fadenscheinig die Abdeckung der Schneiders ist. Nico wirkt für seine Lehr- und Forschungslegende viel zu alert. Inge fehlt die melancholische Grundierung der Dichterinnen. Manchmal scheint die Eleganz einer Eisprinzessin durch die Verkleidung als Muse und Mäzenatin.  

Frühstück mit dem Ehepaar Schneider: eine knapp umschiffte Peinlichkeit. Dann muss Nico los, Humboldt ruft. Inge konnte sich den Vormittag freihalten für mich.

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“ fragt sie.

„Ich glaube nicht, dass Nico dich aufgegeben hat“, antworte ich mit allem Ernst.

„Wir haben unsere Zeit gehabt.“

Eine Auskunft wie ein Achselzucken. Inge schiebt das Geschirr beiseite, dies ist ein Morgen der Offenbarungen. Sie zeigt sich mir so abgespannt und privat ermattet wie noch nie. Sie holt ein Necessaire und macht sich an ihren Nägeln zu schaffen. Ich komme mir ganz schön blöd vor, und Inge unternimmt nichts dagegen. Um wieder die Gnade ihrer Gunst zu erlangen, frage ich, ob ich ihr beim nächsten Besuch etwas mitbringen kann. Etwas Besonderes. Inge sieht kaum auf. Hat sie mich überhaupt gehört?