Handlanger im Ruhestand
„Die Gefühle, die in politischen Beziehungen mitschwingen, sollte man nie unterschätzen.“ Giuliano Da Empoli
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„An diesem Tag wurde mir klar, dass sich die Ukrainer nie fügen werden. In der Ukraine werden gerade gewaltige Dinge ausgefochten.“ Im ersten Satz bezieht sich Bernhard-Henri Lévy auf eine Situation, in der er als Redner auf dem Maidan 2014 auftrat; in einem Interview mit Thomas Bärnthaler und Gabriala Herpell in der Süddeutschen Zeitung am 16.03. 2023, Quelle
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„(Alexander Geljewitsch Dugin) war längst die Verkörperung des russischen Faschismus … Ich wollte, dass die Karten auf den Tisch kommen, dass die Maske fällt.“ Bernhard-Henri Lévy führt die Demaskierungsabsicht als Grund dafür an, dass er 2019 an einem Podiumsgespräch mit Putins Chef-Ideologen teilnahm. Aus einem Interview mit Thomas Bärnthaler und Gabriala Herpell in der Süddeutschen Zeitung am 16.03. 2023, Quelle
Exzentrischer Großvater
Dmitri Schostakowitschs zweimal uraufgeführte Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ begeistert das Publikum, wo immer sie zur Aufführung gebracht wird, seit der ersten Premiere am 22. Januar 1934 in einem Petersburger (Leningrader) Theater. In der Sowjetunion versiegt zumindest der offizielle Enthusiasmus schlagartig. Am 28. Januar 1936 erscheint in der „Prawda“ ein ungezeichneter Artikel mit dem Titel „Chaos statt Musik“.
„Das Publikum wird von Anfang an mit absichtlich disharmonischen, chaotischen Tönen überschüttet. Melodiefetzen und Ansätze von Musikphrasen erscheinen nur, um sogleich wieder unter Krachen, Knirschen und Gekreisch zu verschwinden.“ Quelle
Die vernichtende Kritik stellt eine unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben des Komponisten dar. Geschuldet ist sie Stalin persönlich, der „Lady Macbeth von Mzensk“ zwei Tage vor der Veröffentlichung des Verrisses im Bolschoi-Theater missbilligend zur Kenntnis genommen hatte.
„Zar Nikolaus I. konnte sagen: Guckt mal, wir haben Puschkin. Stalin konnte sagen: Guckt mal, wir haben Schostakowitsch. Hätte es keinen Westen gegeben, Schostakowitsch wäre im Gulag gestorben.“ Michail Schischkin in einem SZ-Interview mit Moritz Baumstieger, Quelle
Giuliano da Empolis Ich-Erzähler reagiert auf die programmatische Besprechung. In einem Moskauer Winter resümiert der französische Einzelgänger:
„Wenn die Dissonanz von der Macht zermalmt wird, ist es bis zum Gulag nur noch eine Frage der Zeit.“
Schostakowitsch quittierte die persönliche Katastrophe so: „Schön, meine Oper … war abgesetzt worden. Gleichzeitig an allen Theatern. Versammlungen wurden anberaumt. Das Chaos musste ‚durchgearbeitet‘ werden. Alle wandten sich von mir ab.“ Zitiert aus „Der Spiegel“ 38/1979, Quelle
Zwischen Vision und Mission
Der Erzähler beruft sich auf den Schriftsteller Jewgeni Iwanowitsch Samjatin. Jener habe in einer literarischen Auseinandersetzung mit der jungen Sowjetunion weit über seine Gegenwart hinausgegriffen und genau die Zukunft beschrieben, die sich im Roman-Jetzt entfaltet. Mit Samjatins erfüllten Prophezeiungen verbindet sich die mysteriöse Existenz eines grandiosen Einflüsterers, der lange an den Ohren eines Zaren unserer Zeit kaute und sich nun als „Handlanger (der Macht) im Ruhestand“ betrachtet.
Giuliano da Empoli, „Der Magier im Kreml“, Roman, 265 Seiten, C.H.Beck, 25,-
Wadim Baranow besaß die Unverfrorenheit, sich im engsten Kreis der Kreml-Herrschaft zu langweilen. Der Zar hasst die Unabhängigkeit des Spindoctors. Dem Berater im Roman soll Wladislaw Jurjewitsch Surkow Modell gestanden haben.
„Der Manipulator. Wladislaw Surkow denkt sich im Kreml Parteien aus, bringt Redakteure auf Linie und verfolgt Oligarchen. Er hat sogar genug Macht, um seine Vergangenheit auszulöschen.“ Michael Ludwig am 04.12.2011 in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, Quelle
In Moskau entdeckt Giuliano da Empolis Erzähler Ecken und Winkel, in denen sich „ein zarter Zauber“ entfaltet: in dieser „unbarmherzigen Stadt“. Er bewegt sich auf einem abseitigen Parcours zwischen Archiven, Dampfbädern und Bars. Er erkundet Quellen und Basen des Informationskriegs, der zugleich Kulturkampf ist. Wo die Macht anderen gehört, streben die Informationskrieger:innen des Kreml kulturelle Hegemonie in Subkulturen an. Man unterwandert, sickert ein, infiltriert und penetriert gesellschaftliche Stabilisatoren so wie alle möglichen Meinungs- und Stimmungsaggregate.
Siehe Antonio Gramsci: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht. Diese wird durch eine konzertierte Aktion intellektueller ‚organischer‘ Aufrufe erreicht. Sie infiltrieren jegliche Kommunikation, jede Ausdrucksform und die akademischen Medien.“
Das Standardmanöver läuft darauf hin, dass man die Anschauung/Rationalität der Ahnungslosen düpiert. Man untergräbt ihre Realitätstüchtigkeit.
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Baranow angelt den Erzähler und macht ihn mit seiner Familiengeschichte vertraut. Baranows Großvater war ein berühmter Wolfsjäger; eine von der sowjetischen Nomenklatura konsultierte Koryphäe.
„Er besaß die typische Frechheit eines russischen Aristokraten. Er hätte sich lieber aufknüpfen lassen, als auf ein Bonmot zu verzichten.“
Opa hasste die Herrschenden. Sein Sohn wehrte sich gegen den exzentrischen Vater mit Adaptionen der Apparatschik-Arien.
„Wenn du unter einer … außergewöhnlichen Persönlichkeit aufwächst, ist Konformismus die einzig mögliche Rebellion.“
Baranow wächst privilegiert auf; das sagt alles. Sein Vater verliert den Halt in der Endzeit des erodierenden Imperiums.
Bereits im Winter 1991, Gorbatschow saß noch im Kreml, fing er an, seine Memoiren zu schreiben. Er machte sich Notizen wie ein Journalist, der einen Politiker beobachtet.
„Da wussten wir (Höflinge): es ist aus.“ Aus Alexander Kluge/Gerhard Richter, „Dezember“
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Nach den Aporien kamen die Gorbatschow-Apologien. Wir sahen in Gorbatschow den gütigen Weltgeist als reitenden Boten einer mit sich selbst versöhnten Geschichte … während man ihn in Moskau für einen Reiter hielt, dem die Zügel entglitten waren.
Baranow verliebt sich. Die Beziehung scheitert in der relativen Leblosigkeit des Moskauer Kulturbetriebs. Leblos im Vergleich zu dem extremen Puls der Entrepreneur-Sphäre.
„Mit unserer amerikanischen Literatur und unseren Beziehungen zu Berlin hielten wir uns für die Avantgarde der Bewegung, obwohl wir nur die letzten Epigonen eines toten Sterns waren.“
Baranow erweist sich als lernfähig. Er sattelt von Hochkultur auf TV um und schließt sich an die „schwarze Elektrizität“, die Moskau in den 1990er Jahren auflädt. Viele Postsowjetbürger:innen feiern die neue Freiheit. Sie sind dem Grauen eines grauen Lebens auf „Wegen in die Welt“ entgangen.
Sein Geschichtsrevisionismus macht Putin zum großen Gegenerzähler. Die westliche Perspektive auf die Entzauberung des Warschauer Pakts geht von einer historischen Konsequenz aus, die Putin wie ein Kaugummi in die Länge zieht. In der Verlängerung triumphieren die aus Schaden klug gewordenen Verlierer:innen über die 89er-Sieger:innen.
Für die Russ:innen war das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende vielleicht sogar schwerer als die unmittelbare Nachkriegszeit. Es wurde gestorben „wie in einem offenen Krieg“.
„Man schätzt, dass allein in Russland zwischen 1989 und 1995 1,3 bis 1,7 Millionen Menschen vorzeitig starben.“ Vor allem Menschen mittleren Alters erlagen „psychischem Stress“ in Prozessen, die das Überkommene finalisierten. Zitate aus Ivan Krastev/Stephen Holmes, „Das Licht, das erlosch“
Baranow etabliert sich mit „barbarischen und vulgären“ Fernsehproduktionen. Sein Chef, Boris Abramowitsch Beresowski, erkennt das Talent. Er fragt:
„Was hältst du davon, wir hören auf, Fiktionen zu erschaffen, und erschaffen stattdessen die Realität?“
Das ist das Informationskrieg-Paradigma in der Nussschale. In der nächsten Runde kommt Putin (noch als FSB-Chef) ins Spiel. Beresowski wähnt sich in der Rolle des Königsmachers. Er überschätzt sich und bezahlt dafür mit dem Verlust seiner Spitzenstellung im kleinsten Kreis der Macht.
Putin erlebte den Untergang der Sowjetunion als nationales Desaster. Der Aufbruch von Neunundachtzig war für den gelernten KGB-Agenten eine Niederlage im Kalten Krieg. Die Konditionen der postkommunistischen Frühphase beschreibt Putin mit Schlüsselbegriffen aus dem revanchistischen Diktatfrieden-Vokabular militanter Kritiker:innen des Vertrags von Versailles.
Baranow schildert Putin als angenehm zuverlässigen Machthaber; jederzeit dazu imstande, Untergebenen das Nötige einzuflößen, ob Vertrauen, Zuversicht, Achtung oder Angst. In einem Streitgespräch mit dem schon abgehalfterten Beresowski erklärt Baranow, Russland habe sich „immer wieder mit der Axt“ erschaffen. Offensichtlich betrachtet Baranow Putin als den fähigsten Zimmermann des Staates.
Auf einer Party trifft er Eduard Weniaminowitsch Limonow, den weltläufigen, mit Amerika vertrauten Gründer der „Nationalbolschewistischen Partei Russlands“. Limonow zieht eine Linie des Niedergangs vom Duellverbot zu Richelieus Zeiten bis zum Vaterschaftsurlaub als einer westlichen Errungenschaft.
Putin verkörpert das Gegenprogramm. Dazu bald mehr.
Aus der Ankündigung
In Frankreich der #1 Bestseller und vielfach ausgezeichnet: Ein Ereignis ist «Der Magier im Kreml» von Giuliano da Empoli, ein auf realen Personen und wahren Begebenheiten basierender Roman, der für Furore gesorgt hat: die Beichte Wadim Baranows, des fiktiven, einflussreichsten Beraters Putins, und die Innenansicht eines immer tödlicheren Machtzentrums, abgründig, erhellend und brillant geschrieben.
Man nennt ihn den «Magier im Kreml». Der rätselhafte Vadim Baranow war Regisseur und Produzent von Reality-TV-Shows, bevor er zur grauen Eminenz von Putin wird. Nachdem er als politischer Berater von der Bühne verschwindet, werden immer mehr Legenden über ihn verbreitet. Bis er eines Nachts dem Ich-Erzähler dieses Buches, der seit Langem in Moskauer Archiven forscht, seine Geschichte anvertraut …
Dieser Roman führt uns ins Zentrum der russischen Macht, wo permanent Intrigen gesponnen werden. Und wo Vadim, der zum wichtigsten Spindoktor des Regimes geworden ist, ein ganzes Land in ein politisches Theater verwandelt, in dem es keine andere Realität als die Erfüllung der Wünsche des Präsidenten gibt. Doch Vadim ist kein gewöhnlicher Ehrgeizling: Der Regisseur, der sich unter die Wölfe verirrt hat, gerät immer tiefer in die Machenschaften des Systems, das er selbst mit aufgebaut hat, und wird alles daransetzen, um dort wieder herauszukommen. Er nimmt den Erzähler mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis. «Der Magier im Kreml» ist ein großer Roman über das zeitgenössische Russland und die Entstehung seiner medial inszenierten und vollkommen fiktiven, aber auch tödlichen Realität, einem Imperium der Lüge. Er enthüllt nicht nur die Hintergründe der Putin-Ära, sondern bietet auch eine hellsichtige Betrachtung über die Macht.