Erzählender Paria
„Was auch immer wir tun. Die Zeit zerstört alles.“ Zain Khalid, „Bruder“
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„Die Saat ihres Wissens fiel auf Zement.“ ZK
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„Die Vergangenheit ist eine Illusion, aber wir brauchen sie.“ ZK
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„Aber dann hielt ich euch im Arm und mir wurde klar, dass ihr etwas Neues wart, losgelöst von unserer Geschichte.“ Zain Khalids Ich-Erzähler Youssef über die Töchter seines ‚Bruders‘ Iseul
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„Wenn es zu Ende ist, falls wir tatsächlich an unser Ende gelangen, hast du vielleicht eines Tages die Chance zu erkennen, wer wir gewesen sind. Und doch wird die Qual mich immer begleitet haben, und ich werde mich ewig fragen: Hätte ich dir noch mehr erzählen müssen?“ Youssef zu einer Tochter seines ‚Bruders‘ Iseul
Die Barbaren
Ein trinkender, Schopenhauer und Dostojewski zitierender, faszinierend polyglotter und manisch selbstgesprächiger Imam spielt eine Hauptrolle in Zain Khalids Debütroman „Bruder“. Nach einer von ihm in Umlauf gebrachten Legende erscheint er als Adoptivvater von drei, 1990 geborenen, mit dem Familiennamen Smith abgespeisten Heimkindern. In den Augen der Welt meistert Salim Taufiq einen Spagat zwischen Fürsorge und Selbstsucht. Der Mann Gottes schafft einen eigenen Kosmos in Räumen über einer Moschee auf Staten Island. Vertraut ist ihm die Wohnung seit seiner Kindheit. Doch stellt sich dem Nachwuchs schließlich die Frage, was an Salims burlesker Adoptivkindergeschichte stimmt.
Zain Khalid, „Bruder“, Roman, Kjona Verlag, 445 Seiten, 26,-
Wirkt Imam Salim vielleicht nur deshalb exzentrisch, weil er im Verborgenen, ein Sufi ist?
Alles auf Anfang
Ehrgeizige junge Männer mit weit gespannten Horizonten begegnen sich Mitte der 1980er-Jahre als Kommilitonen an einer saudi-arabischen Universität. Mohammed Ali Riyaz studiert seinem Vater zuliebe islamisches Recht. Der Sohn eines pakistanischen Generals liebt Lyrik und wäre lieber Maler geworden. In ihn verliebt sich Salim Taufiq. Der Superpolyglotte kann bereits einen Studienabschluss an der New Yorker Columbia University vorweisen. Abdul Karims Vater ist ein nigerianischer Zement-Tycoon. „Statt einen gut bezahlten Job in der väterlichen Firma anzunehmen … (will Abdul Karim) lieber ein Produkt verkaufen, dass zu jeder Zeit nachgefragt wird. „Die institutionelle Religion (betrachtet er als) ein Sicherheitskonzept“, dass in der „Instabilität“ der nordafrikanischen Verhältnisse von Konjunkturschwankungen verschont bleibt. Huk Sun stammt aus der verschwindend kleinen Minderheit koreanischer Muslime. Seine Eltern wurden von türkischen Soldaten bekehrt, die das Kontingent der Uno-Friedenstruppen in Korea verstärkten.
„Die Türken unterhielten Waisenheime … Wenn auch die Wirkung der türkischen Missionierung begrenzt blieb, nahmen einige Koreaner, die später eine wichtige Rolle spielten, den Islam an. Immerhin kamen 1955 … (siebzig) koreanische Muslime zusammen, um den Verein für koreanische Muslime zu gründen.“ „Der Halbmond über Itaewon“, von Hoo Nam Seelmann/aus der NZZ am 09.02.2016, Quelle
Abdul, Huk und Mohammed leben mit ihren Frauen Sabiha, Iffat und Najma zusammen. Sie bilden eine akademische Rasselbande, die sich über saudi-arabische Gepflogenheiten hinwegsetzt. Ein Mangel an Zurückhaltung bestimmt den Komment. Der expressive Kommunikationsstil trägt dem Freundeskreis den Kollektivspitznamen „die Barbaren“ ein. In Umlauf bringt das Wort der gleichermaßen amüsierte und (wegen der Religionspolizei) besorgte Chef des Stammcafés seiner Barbaren.
Mit ihrer Überheblichkeit schrammen die Barbaren an einer Grenze entlang. Noch blendet sie adoleszente Hybris.
Der Autor setzt eine Zeitmarke. Zain Khalid erwähnt Let’s Go Crazy, ein 1984 veröffentlichtes Lied. In der Hochzeit von Let’s Go Crazy geraten Sabiha und Iffat in andere Umstände. Um nicht zu viel preiszugeben, stoppe ich an dieser Stelle und setze anderswo wieder ein.
Koreanischer Gigant
Salims Adoptivsöhne unterscheiden sich ethnisch. Das mathematische Genie Dayo, von Iseuls Töchter einmal als „Schwarzer Weihnachtsmann“ tituliert, ist ein leiblicher Sohn nigerianischer Eltern. Der koreanische Gigant und handwerklich smarte Superbasketballer Iseul wird - gemeinsam mit der Filipina Fae - früh Vater der Zwillinge Ruhi und Eszra. Iseul liebt den Koran. Er spricht fließend Arabisch, während er nichts dabei findet, sein spät erlerntes Koreanisch bald wieder zu vergessen. Youssef, dessen Herkunft zunächst unklar bleibt, um sich endlich vollständig aufzuklären, lebt mit einem Geist zusammen, der jede Gestalt annehmen kann, und doch so bedürftig wie ein kleines Kind ist. In ihm erkennen wir den Titelhelden. Bruder klebt an Youssef. Salim legt ihm gegenüber eine kaum väterliche Zurückhaltung an den Tag. Er interpretiert Youssefs besonderen Bruder als Krankheit, die womöglich bei Liebeshandlungen übertragen wird. Ihr Ausgangspunkt ist ein Gas, mit dem Salim selbst kontaminiert wurde. Offen ungerecht verweigert er Youssef jede Zärtlichkeit, obwohl er ihn infizierte. Angenehm kaltblütig protokolliert er den mysteriösen Stand der Dinge. Er informiert seine Adoptivsöhne über ihre leiblichen Eltern. Der Paria unter den Brüdern erzählt die verschlungene Familiengeschichte Iseuls überlebender Tochter Ruhi.
Aus der Ankündigung
Über der Moschee auf Staten Island wachsen drei Brüder auf, die sehr unterschiedlich sind und einander doch innigst lieben. Dayo stammt aus Nigeria, Iseul aus Korea. Nur Youssef, der jüngste Bruder, weiß nichts von seiner Herkunft. Er sucht die Nähe ihres Adoptivvaters Salim, doch der charismatische Mann steckt voller Rätsel. Während die Brüder in die Glitzerwelt Manhattans eintauchen, hält Salim antiwestliche Reden in der Moschee. Als er eines Nachts nach Saudi-Arabien aufbricht, folgen Youssef und seine Brüder ihm und begeben sich auf einen Weg der Erkenntnis wie der Verstörung. Sie werden Zeuge, was geschieht, wenn sich Religion und Kapitalismus als Machtinstrumente kaum noch voneinander unterscheiden lassen. Und sie erfahren endlich, wer sie wirklich sind.
Zum Autor
Zain Khalid schreibt fürs amerikanische Fernsehen und veröffentlicht Artikel im New Yorker, bei n+1 und im Believer. Er wuchs auf Staten Island auf und lebt auch heute in New York City. Bruder ist sein erster Roman.
Zur Übersetzerin
Eva Regul, geboren 1974 in Kiel, studierte Literaturwissenschaft in Berlin und lebte anschließend in London. Sie übersetzt u.a. C Pam Zhang und Catherine Raven.