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2023-04-21 09:37:41, Jamal

Alois Berger verschränkt die Geschichte des oberbayrischen Displaced-Persons-Camps Wolfratshausen-Föhrenwald mit seiner eigenen Biografie. Er wuchs in Wolfratshausen auf. In seiner Kindheit und Jugend entging ihm die mehrheitsgesellschaftliche Überformung einer historischen Präzedenz im Holocaustkontext. In der Konsequenz administrativer, von der katholischen Kirche dynamisierter Strategien wurden städtische Schicksalsspuren von Shoa-Überlebenden dem Vergessen anheimgestellt. Einvernehmlich breiteten die Bürger:innen den Mantel des Schweigens über ein Kapitel ihrer Stadt- und Schuldgeschichte. Im Verdrängungsgalopp gingen sie zur Tagesordnung über. 

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“Security will not exist if our nation’s women to not know how to fight.” David Ben Gurion

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„Die Menschen, die (David Ben Gurion im Herbst 1945) in den DP-Lagern vorfand, waren zwar zu allem bereit, aber sichtbar nicht mehr zu allem fähig.“ Alois Berger

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“We must help the British in the war as if there was no White Paper, and we must stand against the ‘White Paper’ as if there was no war”. David Ben Gurion, Quelle

 Israel in Bayern

Im September 1945 reiste Dwight D. Eisenhower von Frankfurt am Main, wo das amerikanische Hauptquartier lag, nach Feldafing am Starnberger See, um als oberste alliierte Autorität persönlich die Daseinsbedingungen von Shoa-Überlebenden zu verbessern.

Der Militärgouverneur reagierte auf eine Truman-Doktrin. Der Präsident bezog sich auf den Harrison Report:

“Generally speaking ... many Jewish displaced persons and other possibly non-repatriables are living under guard behind barbed-wire fences, in camps of several descriptions (built by the Germans for slave-laborers and Jews), including some of the most notorious of the concentration camps, amidst crowded, frequently unsanitary and generally grim conditions, in complete idleness, with no opportunity, except surreptitiously, to communicate with the outside world, waiting, hoping for some word of encouragement and action in their behalf ...” Sh’erit ha-Pletah, Quelle

Alois Berger, „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte“, Piper, 236 Seiten, 24,-

Eisenhower akquirierte, requirierte und ordnete sonst wie an - im Zuge der Durchsetzung einer Truman-Doktrin - bis ein „rein jüdisches Lager … (mit) Sonderrechten“ eingerichtet war. Dessen Bewohner:innen verband Eisenhower - zum Neidwesen anderer - mit den Kreisläufen der US-Truppenversorgung. Die verbündeten Briten widersprachen einer Besserstellung der Juden mit einem strategischen Argument. Die Mandatsmacht fürchtete eine Verschärfung des Palästina-Konflikts, da sich die amerikanischen Ausnahmeregelungen als Anerkennung der Juden im Sinne eines Volkes ohne Land deuten ließen.

Dem jüdischen Anspruch auf einen eigenen Staat sollte in der britischen Herrschaftssphäre kein Raum gegeben werden. Deshalb registrierte die britische Militäradministration jüdische Displaced Persons „nach ihrer Nationalität“. Die Verwalteten waren als Juden verfolgt worden. Jetzt wurden sie mit ihren Verfolger:innen in einen Volkstopf geworfen. So verfuhren auch die französischen und sowjetischen Sieger:innen.

In der Konsequenz dieser Praxis strömten jüdische DPs nach Süddeutschland. „Die Unterbringungsstätten rings um den Starnberger See quollen über.“

Im Oktober 1945 inspizierte David Ben Gurion zum ersten Mal die Lager. Die Sh'erit ha-Pletah feierten den Fackel- und Bannerträger von Eretz Israel.

„Die Menschen, die er in den DP-Lagern vorfand, waren zwar zu allem bereit, aber sichtbar nicht mehr zu allem fähig … Mit den KZ-Überlebenden (ließ sich) in Palästina kein Staat … machen.“

Gurion schlug Eisenhower vor, „den Deutschen ein Stück Bayern wegzunehmen und es den Juden zu geben“.

Doch „Israel in Bayern fand nicht statt“. Berger stellt Vermutungen darüber an, weshalb Eisenhower die Idee einer eigenstaatlichen jüdischen Enklave in Deutschland nicht weiterverfolgte. Vielleicht lag es daran, dass der Edelhaudegen den Traumatisierten die Organisation eines eigenen Gemeinwesens nicht zutraute. Vielleicht, das sagt Berger nicht, hatte Eisenhower auch schon die Leitlinien des Kalten Kriegs zum Nachteil der Leidenden verinnerlicht.

Längst stand Deutschland als Vorposten und Frontstaat auf der amerikanischen Agenda.

Vielleicht war es noch einfacher. Eisenhower könnte übersehen haben, was sich unter seinen Augen vollzog. Ein jüdischer, von einem Pogrom im polnischen Kielce im Juli 1946 dynamisierter Zuzug aus Osteuropa und aus der Sowjetunion vergrößerte die Zahl der jüdischen DPs um 200.000. Die „Infiltrees (waren) … jünger, kräftiger, gesünder als die KZ-Überlebenden“. Vor allem jedoch brachten sie Kinder mit.

„Jüdische Kinder hatte es in Deutschland seit 1942 kaum noch gegeben.“

„Doch jetzt waren auf einmal wieder Kinder da.“

1946 werden in der amerikanischen Zone monatlich zwischen sechshundert und siebenhundert Babys geboren.

“As of January 29, 1947, there were 4,557 Jews at the Foehrenwald camp. Among them were 306 babies of one year or younger.” Solomon Goldman, “’Education among Jewish Displaced Persons: The Sheerit Hapletah in Germany, 1945-1950’ … This dissertation deals with the problems of education among the Jewish Displaced Persons (known among Jews as Sheerit Hapletah (Saved Remnant) in Germany.” Quelle

Aus der Ankündigung

Föhrenwald, das vergessene Schtetl - Die letzte jüdische Siedlung in Europa

Von 1945 bis 1957 lebten im bayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden, Überlebende des Holocaust – mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das Schweigen erlebt. Er verwebt die Spurensuche in seiner Heimat mit den Geschichten der Überlebenden – denen, die nach Israel gingen, und denen, die aus dem Land der Täter nicht wegkonnten.

„Ich habe meine gesamte Jugend in einer Art Theaterkulisse verbracht, einer sehr schönen, fast kitschigen Theaterkulisse mit verschneiten Bergen am Horizont, glasklaren Seen, mit malerischen Bauerndörfern und barocken Kirchen. Natürlich war das alles real, aber die Bilder im Kopf bekamen zerschlissene Ränder und fadenscheinige Stellen, als ich herausfand, dass mitten in dieser friedlichen Landschaft ein blinder Fleck war, eine sehr große undurchsichtige Leerstelle, über die nie geredet worden war.“ Alois Berger

Zum Autor

Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.